Abstrakt Ausflug #1
Marienthal-Gramatneusiedl, 19. März 2022
16-17 Uhr beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park
“1931 waren in der Gemeinde Marienthal durch die Schließung der ortsansässigen Textilindustrie dreiviertel von nahezu fünfhundert ortsansässigen Familien arbeitslos. Auf einen Hinweis des SPÖ-Vorsitzenden Otto Bauer und unter der Leitung des Wiener Sozialpsychologen Paul Felix Lazarsfeld machte sich das Team von fünfzehn jungen, hochmotivierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Marienthal auf. Es wollte drei Monate lang das Elend vor Ort en detail erkunden.(…) Per teilnehmender und verdeckter Beobachtung wurden nicht nur statistische Daten über Haushaltsbudgets oder einzelne Mahlzeiten erfasst, sondern auch Zeitverwendungsbögen verteilt, Gaststättenprotokolle erstellt oder Gehgeschwindigkeiten gestoppt. (…) Dreißig Kilogramm Untersuchungsmaterial türmten sich vor Marie Jahoda auf, als sie sich die Zusammenfassung vornahm: Familienprotokolle, Budgetanalysen, Aufzeichnungen aus Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten, Lehrerinnen und Lehrern und vieles mehr. Herausragend dabei der narrative Stil, mit dem Jahoda als lebensnah forschende Sozialpsychologin die umfangreichen Daten aufbereitete.” (Beitrag im Radio, DLF)
Herausgekommen ist 1933 ein tolles Buch, bald verdrängt und vergessen, ab den 1960ern wiederentdeckt, seitdem zugänglich als günstiges taschenbuch:
Marie Jahoda, Paul F. Lazarfeld, Hans Zeisel. Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. (Lektüre sei empfohlen!)
Ausflug ging mit der Bahn ins nur 15 Minuten entfernte Gramatneusiedl, im Süd-Osten von Wien. Vom Bahnhof 20 Minuten die Hauptstraße hinunter stehen wir vor dem Museum Marienthal, verortet im ehemaligen Gebäude des Conumvereins aus den späten 20er Jahren. (Eines der schönsten kleinen Museen der Welt: http://agso.uni-graz.at/museum_marienthal/index.htm).
weitere Info, kurzes video: https://www.youtube.com/watch?v=QOYyy7zTDCo
labournet.tv ( https://de.labournet.tv/ ) hat einen clip zum Film “Einstweilen wird es mittag” von Karin Brandauer veröffentlicht: https://de.labournet.tv/video/5737/einstweilen-wird-es-mittag
Zurück wählten wir weise einen anderen weg wie den bereits gegangenen und gelangten auf felder und wiesen, überquerten bäche und kanäle. Die abendsonne kündigte sich an, zum sonnenuntergang war es zu früh. (Siehe auch hierzu Bilder im Anschluß)
Verwiesen sei auch noch auf arbeiten der künstlerin Linda Bilda, die seit 2015 in Marienthal/Gramatneusiedl über das gemeindegebiet verteilt wurden, beziehung aufnehmend und suchend zu historischen gegebenheiten, aktuell in material und anliegen dass weiterhin etwas nicht stimmt mit den begrifflichkeiten von arbeit und arbeitslosigkeit: https://www.publicart.at/de/projekte/alle/?pnr=835&weiter=1
(wegen Linda Bildas kunst in marienthal hab ich mir das büchlein der Arbeitslosen von Marienthal damals zum ersten mal angeschafft. gelesen, halb vergessen, verlegt, jetzt wieder erinnert mit ankunft in wien, nochmal erworben)
Paralipomena: Warum Ausflug?
“Der Ausflug dient dem Fortleben, der Wandlung und Erneuerung des Lebendigen. Die stets wieder sich stellende Aufgabe wahrer Ausflüge ist der verbindliche Ausdruck der Dialektik von Ganzem und Teilen, wobei die Erkenntnis der Teile in die des Ganzen übergeht und umgekehrt das Bewusstsein vom Ganzen dem Ansatz der Teile sein Gewicht zuteilt. Der Ausflug ist kein Statisches, sondern ein Prozess”
Theodor W. Adorno in “Der Ausflug und die Ausflüge” ( … oder auch in “Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion”)