Abstrakt Ausflug #2
Karl-Marx-Hof, 1190 Wien, 27. März 2022
Der Karl-Marx-Hof: Über 1,2 Kilometer lang, mit geschlossener Bauweise, Toren und Türmen, steht er wie eine Festung im bürgerlich-konservativen Wiener Bezirk Döbling
„Wien hatte 1918 den Zusammenbruch einer jahrhundertealten Ordnung, die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und den Massenexodus einer halben Million Menschen erlebt, die über Nacht zu Ausländern geworden waren. Doch mitten im wirtschaftlichen Niedergang und im identitären Vakuum, das die vertriebenen Habsburger hinterliessen, war auch Platz für die Verwirklichung einer Utopie: 1919 wurde Wien zur weltweit ersten Millionenstadt, in der Sozialdemokraten an die Macht kamen. Sie bauten die Stadt zur proletarischen Metropole um: Dank einer gezielten Umverteilungspolitik schufen sie innerhalb weniger Jahre Wohnraum für über 200 000 Menschen. Heute ist die Stadt Wien, die bis in die neunziger Jahre Gemeindebau um Gemeindebau errichtete, die grösste Hausverwaltung Europas.“ (NZZ, Die rote Festung steht noch, 2. Juni 2014)
Treffpunkt um 12:45 Uhr damit die offene Führung erwischt wird, jeden Sonntag organisiert vom Museum WASCHSALON NR. 2 (waschsalon.at/startseite).
Wir werden zuerst auf den Platz des 12. Februar (Bürgerkrieg 1934) geleitet, dann durch einen der luftigen Innenhöfe der Wohnanlage. Viele Informationen, viele Namen – eingerahmt ins gemauerte Wohnensemble, schönstes Wetter, der Schatten wird gesucht, Jacken aus- und angezogen. Zufällig zusammengewürfelte Gruppe, manche etwas gezwungen, anderer mit aufgeklebten Dauergrinsen, einer gibt zu oft zu verstehen, dass er sehr gut selber besser bescheid weiß. Zur Information über den Karl-Marx-Hof und das „Rote Wien“ sei dieser Artikel vom engagierten Wiener Soziologen Raphael Kiczka von 2014 empfohlen: das-rote-wien.
Anschließend ein kurzer Schlenker über die Hohe Warte, am Stadion vorbei, zum Setagaya Park. Schlendern durch Döbling, Kaffee und Kuchen, weiter in den 9. Bezirk, in die Porzellangasse zum Abendbrot. Zum Ende waren wir rund 10 Stunden unterwegs gewesen.
Bilder vom Sonntag:
Paralipomena: Warum Ausflug?
„So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch einer Straße, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte.“
Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“