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Irwin Navigator: Retroprincip 1983-2003
Inke Arns
Am 6. Juni 1992 fand in Moskau auf Initiative der slowenischen Gruppe Irwin (NSK) und des amerikanischen Filmregisseurs Michael Benson im Rahmen der NSK Embassy Moscow1 eine Aktion russischer und ex-jugoslawischer KünstlerInnen und TheoretikerInnen statt: Gemein-sam breiteten sie auf dem Roten Platz vor dem Kreml ein 22 x 22 Meter großes Quadrat aus schwarzem Stoff aus (Black Square on Red Square). Von dieser Aktion existieren außer ein paar Videoaufnahmen und Fotografien weder ein Konzept, noch gibt es, wie bei der russi-schen Gruppe Kollektive Aktionen, systematische Berichte der Teilnehmer und Teilnehme-rinnen. Nur in den in der Dokumentation der NSK Embassy Moscow veröffentlichten Beiträ-gen von Michael Benson und Natal’ja Abalakova wird beiläufig von der Aktion berichtet, an der insgesamt 60-70 Leute beteiligt waren. Unbeteiligte Zuschauer auf dem Roten Platz wur-den zu Akteuren, indem sie den ca. 25 Teilnehmern spontan beim Ausbreiten des Stoffes hal-fen: „Das Schwarze Quadrat, das für den schnellen Transport vom Bus dorthin zunächst wie ein Leichentuch aufgerollt war, wird von zahllosen Händen in drehender Bewegung im Uhr-zeigersinn geöffnet. In der Mitte des Roten Platzes ausgebreitet, wirkt es so, wie Malewitsch es zuerst entworfen hatte: Es ist unergründlich, hat Ausstrahlung und besitzt eine unerklärli-che Macht. Hunderte von Menschen, die sich an seinem Rand sammeln, definieren diesen suprematistischen Archetyp. Sie sehen aus ‚wie ein Haufen Ameisen um einen riesigen Zu-ckerwürfel herum’, wie der Kameramann Ubald Trnkoczy bemerkt.“2
Ziel dieser Ausbreitung des Schwarzen Quadrates im Zentrum der (ideologischen) Macht war die Konfrontation eines ideologischen Systems mit einem in seiner Totalität ebenbürtigen, jedoch nicht ideologischen, sondern explizit künstlerischen System. Dies wird im Titel der Aktion durch die – wohl nur in der englischen Sprache mögliche – Parallelisierung von „Black Square“ und „Red Square“ deutlich. Diese Konfrontation auf dem Roten Platz mit seiner langen Geschichte der Staatsbegräbnisse und Militärparaden war, wie verschiedene Quellen berichten, für alle Teilnehmer ein sehr bewegendes Moment. Entgegen der Annahme, dass die Miliz umgehend eingreifen und die Aktion abbrechen würde, hielten sich die auf dem Roten Platz anwesenden Milizionäre im Hintergrund: „Die Apt-Art-Kuratorin Elena Kurl-jandceva hat Tränen in den Augen. Sie zeigt auf einen Mann der Miliz. ‚Sprecht mit ihm’, sagt sie. ‚Jetzt kann ich endlich glauben, dass die Dinge sich wirklich geändert haben.’ Der uniformierte Beamte ist nicht zu unterscheiden von den Legionären, die einst die Moskauer Botschaften der westlichen Länder abschirmten. ‚Es ist ein schwarzes Quadrat, ein Gemälde’, erklärt er. ‚Ich verstehe dieses Werk nicht – aber ich sehe auch nicht, was daran verkehrt sein sollte.’ Als er zum Balkan befragt wird, sieht er finster aus. ‚Meine Frau und ich machen uns Sorgen um Jugoslawien’, sagt er langsam. ‚Wir sehen uns das jeden Abend im Fernsehen an. Dort sterben Frauen und Kinder … Gott sei Dank passiert so etwas hier nicht.’“3
Als die Gruppe Rrose Irwin Sélavy 1983 gegründet wurde, waren ihre Mitglieder Dušan Mandič, Miran Mohar, Andrej Savski, Roman Uranjek und Borut Vogelnik zwischen 22 und
1 Die NSK Botschaft war Teil des internationalen Apt-Art-Projektes, das 1991-1992 von Viktor Misiano, Lena Kurljandceva und Konstantin Zvezdočetov in Moskau organisiert und durchgeführt wurde.
2 Michael Benson, The Future is Now, in: Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow. How the East Sees the East. Koper, o.J. [1992/93], S. 80-88, hier S. 85.
3 Benson o.J. [1992/1993], S. 86. Da die Aktion nicht von der Miliz abgebrochen wurde, packten die Teilnehmer das Stoffquadrat nach 20 Minuten wieder ein und fuhren mit dem Bus weg. 2
29 Jahre alt. Sie kamen aus der Punk- und Graffiti-Szene Ljubljanas.4 Der Gruppenname, der sich offensichtlich auf Marcel Duchamp5 bezog, und dessen typischer Schriftzug laut Irwin von einem Uhrmacher gleichen Namens aus Cincinnati stammte, wurde bald zu R Irwin S verkürzt – und schließlich 1984, nach Gründung der Neuen Slowenischen Kunst (NSK), zu Irwin. Das erste Projekt, das die Gruppe Anfang 1984 noch unter dem Namen R Irwin S reali-sierte, hatte den Titel Back to the USA und bestand aus einer vollständigen Rekonstruktion (manche würden sagen: Kopie) der zu dieser Zeit unter gleichem Titel durch Westeuropa tou-renden Gruppenausstellung US-amerikanischer Künstler. Zwar besaß dieses Projekt noch nicht die Formensprache, die für Irwin wenig später typisch werden sollte. Allerdings, und das macht diese Projekt so überaus wichtig, nahm es gleichermaßen in einem Handstreich die für die Arbeit der Gruppe Irwin zentrale radikale Kopierstrategie vorweg.
Das Malerkollektiv Irwin kann mittlerweile auf ein 20-jähriges Oeuvre zurückblicken.6 Zu-sammen mit der Musikgruppe Laibach bzw. Laibach Kunst (*1980), dem Theater der Schwestern Scipio Nasicas (*1983, heute: Kosmokinetisches Kabinett Noordung) und der Designabteilung Neuer Kollektivismus (NK) ist sie eine der Hauptgruppen des 1984 gegrün-deten Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK).7
Wie auch die anderen Gruppen ist Irwin – als Abteilung für bildende Kunst der NSK – dem sogenannten „Retroprinzip“ verpflichtet. Dieses Retroprinzip ist „kein Stil oder ein Kunst-trend, sondern vielmehr ein Denkprinzip, eine bestimmte Verhaltens- und Handlungsweise”,8 das manchmal auch „Arbeitsmethode“9 genannt wird. Es bezeichnet eine paradoxe Vorwärts-bewegung in die Zukunft, die sich ausschließlich unter Rückgriff auf die Vergangenheit voll-zieht. Konkret heißt das, dass die in den 1980er Jahren entwickelte Bildsprache des Malerkol-lektivs neben der Übernahme vieler Bildmontagen von Laibach Kunst ausnahmslos aus Zita-ten aus der west- und osteuropäischen Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts besteht. Irwin benutzt Motive des Sozialistischen Realismus und der Kunst des Dritten Reiches, Motive aus der Kunst der verschiedenen europäischen, explizit politisch engagierten Avantgardebewe-gungen (italienischer Futurismus, sowjetrussischer Konstruktivismus) sowie Motive aus der slowenischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Neben religiösen Zitaten übernimmt Irwin die von Laibach Kunst eingeführte leitmotivische Verwendung der Motive des Adlers, des Hirsches, des Sämanns sowie des schwarzen Kreuzes des russischen Suprematisten Kasimir Male-witsch. All diese Zitate unterschiedlichster Provenienz fügt die Gruppe in ihren in traditionel-ler Technik gemalten und mit schweren Rahmen versehenen Ölgemälden zu komplexen und vielschichtigen Montagen zusammen.
Zur Ausstellung
Irwin: Retroprincip 1983-2003 markiert das 20-jährige Bestehen der Gruppe Irwin und ist gleichzeitig die erste große Einzelausstellung der Gruppe in Berlin, 15 Jahre nach ihrer ersten Ausstellung in Deutschland in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf Anfang 1989. Die Aus-
4 Vgl. dazu Aleš Erjavec/Marina Gržinić, Ljubljana, Ljubljana. The Eighties in Slovene Art and Culture, Ljubl-jana 1991 sowie 75’85. Do roba in naprej. Slovenska umetnost 1975-85, Kat. Moderna galerija, Ljubljana 2003.
5 Marcel Duchamp benutzte seit 1920 „Rrose Sélavy“ („Rose – c’est la vie“) als eines seiner weiblichen Pseudo-nyme.
6 Ausführlich zu Irwin vgl. in diesem Katalog: Inke Arns, Irwin (NSK) 1983-2003: Kunstgeschichte als Fiktion. Von Was ist Kunst? über Kapital zum ‚Östlichen Modernismus’.
7 Zur NSK vgl. in diesem Katalog Inke Arns, Mobile Staaten / Bewegliche Grenzen / Wandernde Einheiten: Das slowenische Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK).
8 Vgl. das Manifest „Retroprincip“ von 1984 in diesem Katalog.
9 Irwin, The Program of the Irwin Group (1984), in: NSK 1991, S. 114; zuerst erschienen in: Problemi , Nr. 6, Ljubljana (1985), S. 54 3
stellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 versammelt die wichtigsten Werkkomplexe von Irwin und ermöglicht so – gerade in ihrer Zusammenschau von Projekten der 1980er, 1990er und 2000er Jahre, die durch ein Film- und Videoprogramm zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst ergänzt werden10 – eine umfassende Darstellung eines wandlungsreichen und thema-tisch hochkomplexen Gesamtwerkes. Sie ist damit nicht nur für Berlin, sondern deutschland- und europaweit eine Premiere.
Seit 1983 setzt sich die Gruppe Irwin in ihren künstlerischen Projekten umfassend mit der Kunstgeschichte Osteuropas auseinander, speziell mit dem ambivalenten Erbe der histori-schen (russischen, aber auch südslawischen) Avantgarde und ihren totalitären Nachfolgern, also mit der Dialektik von Avantgarde und Totalitarismus. Nach der Erarbeitung einer eige-nen Bildsprache in ihren Appropriations-Projekten der 1980er Jahre11 konzentriert sich die Gruppe seit den 1990er Jahren auf die kritische Hinterfragung der Kunstgeschichte des ‚west-lichen Modernismus‘. Diesem stellen sie mit der ‚Retroavantgarde‘ einen fiktiven ‚östlichen Modernismus‘ gegenüber, der durch seine eigene offensichtliche Konstruiertheit auf die Kon-struiertheit westlicher Schemata der Kunstgeschichte verweist, von denen zeitgenössische Kunst aus Osteuropa nach wie vor ausgeschlossen bleibt. Ziel eines der neuen Projekte von Irwin ist es daher auch, eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwi-schen 1945 und 2002 anzuregen, und zwar jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung‘ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen (East Art Map, 2002).
Während Irwin in den letzten zehn Jahren international sehr präsent war, ist die Gruppe in Deutschland neben Galerie-Ausstellungen (Inge Baecker, Köln) und einigen Ausstellungsbe-teiligungen12 noch nie in einer größeren, die letzten 20 Jahre umfassenden Einzelausstellung präsentiert worden. Seit der Anfang 1989 von Jürgen Harten kuratierten Ausstellung Ir-win/Neue Slowenische Kunst in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf13 sind 15 Jahre ver-gangen, in denen die Gruppe Irwin – nicht zuletzt angeregt durch die politischen Veränderun-gen und Verwerfungen seit 1989 – ihre Konzepte der 1980er Jahre (‚Retrogarde‘, ‚Überidenti-fizierung‘) überarbeitet und wichtige Projekte und neue Konzepte für die 1990er und 2000er Jahre entwickelt hat. Hier sind besonders der 1991 gegründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) mit seinen temporären Botschaften (u.a. 1992 in Moskau), das 1996 durchgeführte Transnacionala-Projekt, die Initiierung der East Art Map (2002) sowie Irwins langjähriges Engagement für die Einrichtung von Sammlungen osteuropäischer Kunst auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (aktuell: ArtEast 2000+ Collection, Moderna galerija, Ljubljana) zu nennen. Diese Projekte haben durchweg zum Ziel, eine Auseinandersetzung des Ostens bzw. Osteuropas mit sich selbst zu initiieren – treffender Weise hat Irwin die Dokumentation der NSK Embassy Moscow (1992) mit „How the East Sees the East“ untertitelt. Es ist dieser Blick auf die eigene (osteuropäische) Kunstgeschichte, der Irwin so spannend macht – gerade auch im Kontext der in Berlin parallel stattfindenden Ausstellung Berlin – Moskau, Moskau – Ber-lin 1950 – 2000. Nach der Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien in Berlin wandert die Aus-stellung weiter in das Karl Ernst Osthaus-Museum nach Hagen und anschließend in das Mu-seum of Contemporary Art in Belgrad.
10 Goran Gajić, Pobjeda pod Suncem (Sieg unter der Sonne, 60 min., 1987); Marina Gržinić / Aina Šmid, Tran-scentrala – NSK Država v času (20:05 min., 1993); Peter Vezjak/Retrovizija (NSK), Bravo – Laibach in Film (53 min., 1993); Michael Benson, Predictions of Fire (95 min., 1995); Marina Gržinić / Aina Šmid, Postsocialism + Retroavantgarda + Irwin (22:05 min., 1997).
11 Vgl. Inke Arns, Neue Slowenische Kunst (NSK) – eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien, Regensburg 2002.
12 z.B. unfrieden, Hamburg 1996; After the Wall, Stockholm/Berlin 1999/2000; Vulgata – Kunst aus Slowenien, Berlin 2001; Museutopia, Hagen 2002.
13 Übernahme aus dem Centre National des Arts Plastiques, Paris. 4
Irwin Navigator: Katalogbuch und Anthologie
Das Katalogbuch, das anlässlich der Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 erscheint, hat mehrere Ziele. Es versammelt, erstens, die wichtigsten Artikel und Texte, die in den letzten fünfzehn Jahren zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst geschrieben worden sind. Eine solche Zusammenstellung erschien sinnvoll, da viele dieser Texte und Artikel verstreut in Katalogen, Zeitschriften oder Büchern erschienen sind, die heute teilweise vergriffen oder gar nicht mehr verfügbar sind. Zweitens macht das vorliegende Katalogbuch durch seine konse-quente Zweisprachigkeit viele Texte zum ersten Mal in deutscher bzw. in einigen Fällen in englischer Übersetzung zugänglich. Und drittens bietet es dem Leser bzw. der Leserin durch seine thematischen Unterteilungen, die im April 2003 gemeinsam mit Irwin in Ljubljana erar-beitet wurden, rote Fäden durch das komplexe Gesamtwerk der Gruppe. Anhand dieser vier übergreifenden Themenkomplexe – „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrogra-der pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“ – kann in der vorliegenden Publikation verfolgt werden, wie sich die verschiedenen thematischen Schwer-punkte innerhalb der Arbeit von Irwin im Laufe der Zeit verändern, eine Erweiterung erfahren oder in ganz neuen Kontexten wichtig werden.14
Den einzelnen thematischen Clustern des Kataloges sind sowohl Texte und Aufsätze ver-schiedener Autoren, Manifeste der Gruppe Irwin als auch Werkgruppen der Künstler zuge-ordnet. Die Texte sind dabei so angeordnet, dass die Kapitel jeweils mit den zeitlich jüngsten, teils speziell für die aktuelle Ausstellung geschriebenen Texten beginnen (Daniel Spanke, Gregor Podnar) und mit den ältesten enden. Texte, Manifeste und Werke sind außerdem durch hypertextuelle Links verbunden, die – trotz der linearen Organisation des Mediums Buch – non-lineare Lesarten von Irwins Oeuvre ermöglichen. Diese hypertextuelle Verlinkung mit anderen Texten, Arbeiten oder Kontexten ergab sich aus der Einsicht, dass sich einzelne Ar-beiten nur schwer auf ein einziges Thema beschränken lassen.
Das Katalogbuch ist, wie bereits erwähnt, in vier thematische Kapitel aufgeteilt: „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrograder pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“. An das vierte Kapitel schließt sich ein weiterer Teil mit sechs Interviews an, die verschiedene AutorInnen zwischen 1988 und 2000 mit Irwin geführt haben. Eine ausführliche Bio- und Bibliographie zu Irwin sowie Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren und ein Quellennachweis der in dieser Anthologie enthaltenen Texte schließen die Publikation ab.
Destruktion und Konstruktion (Ideologie)
Das erste übergreifende Kapitel beleuchtet vor allem die gesellschaftskritischen Aspekte, die die Gruppe Irwin mit dem Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) – und hier ins-besondere mit der Gruppe Laibach und der Designabteilung Neuer Kollektivismus – verbin-den. Destruktion (oder Kritik) gab und gibt sich bei Irwin und der NSK immer als Konstrukti-on (oder Affirmation), und Affirmation entpuppt sich als schwer zu überbietende Kritik des Systems und seiner Ideologie. In den 1980er Jahren äußerte sich die Taktik der Neuen Slowe-nischen Kunst weder in einem offen kritisierenden Diskurs gegenüber dem Staat und der I-deologie noch in der Distanzierung zur Ideologie durch ironische Negation (Stichwort Dissi-denz). Es ging im Gegenteil um eine Wiederholung, um eine Aneignung von Bestandteilen
14 Die Ausstellung selber folgt nicht den vier übergreifenden Themenkomplexen des Kataloges, sondern kon-zentriert sich auf die Präsentation der wichtigsten Werkkomplexe der Gruppe. 5
und Versatzstücken der offiziellen Ideologie, um ein Spiel mit diesen ‚ready mades’, um ein Aufnehmen vorhandener Herrschaftscodes, um – so Laibach – „diesen Sprachen mit ihnen selber [zu] antworten.“15 Es handelte sich um eine subversive Strategie, die der slowenische Philosoph und Lacanier Slavoj Žižek als radikale „Überidentifizierung“16 mit der ‚verdeckten Kehrseite’ der die gesellschaftlichen Beziehungen regulierenden Ideologie bezeichnet hat. Die NSK trat – unter Verwendung aller durch die offizielle Ideologie explizit und implizit vorge-gebenen Identifikationsmomente – als eine Organisation auf, die noch „totaler als der Totali-tarismus“ (Boris Groys) zu sein schien – ein provokativer Verweis auf das politische System Jugoslawiens.17
Ein gutes Beispiel für diese Art von „subversiver Affirmation“, also für eine Taktik, die es erlaubt, an bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Diskursen teilzunehmen, diese zu bestätigen, sie sich anzueignen oder zu konsumieren und dabei gleichzeitig zu unterwan-dern,18 ist der sogenannte Poster-Skandal. Der Neue Kollektivismus (NK), die Designabtei-lung der NSK, löste 1986/87 einen – international beachteten – Skandal aus, als er für den Tag der Jugend (Dan Mladosti), der alljährlich an Titos Geburtstag begangen wurde, ein auf einem Nazi-Plakat basierendes Poster zum Wettbewerb einreichte und dieses von einem hochoffiziellen all-jugoslawischen Komitee – ihm gehörten Vertreter des Bundes der sozialis-tischen Jugend Jugoslawiens, der jugoslawischen Volksarmee und des Bundes der Kommu-nisten Jugoslawiens an – prompt mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Das Plakat des NK bestand aus einer leicht veränderten Version des Bildes Das dritte Reich. Allegorie des Heldentums (1936) von Richard Klein und zeigte einen mit Stafette, jugoslawischer Fahne und anderen Staatsinsignien ausgerüsteten, siegesgewiss in die Zukunft schreitenden Jüngling. Das Komitee lobte das Poster des Neuen Kollektivismus und begründete die Preisvergabe damit, dass der Entwurf „die höchsten Ideale des Jugoslawischen Staates ausdrückt.“19 Umso peinlicher, dass nach Aufdeckung der Bildquelle die jugoslawischen Bundesbehörden einen politischen Prozess wegen „Verbreitung faschistischer Propaganda“ gegen den NK anzustren-gen versuchten, der aber von den slowenischen Behörden abgewendet werden konnte (hier zeigten sich bereits Unstimmigkeiten zwischen der [zunehmend illiberalen] jugoslawischen Bundesebene und der [liberaleren] slowenischen Republikebene, die gegen Ende der 1980er Jahre schließlich auch zu einem faktischen Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderati-on führen sollten). Die slowenische Kunsthistorikerin Lilijana Stepančič nimmt in ihrem Bei-trag eine ausführliche Analyse des Poster-Skandals vor, in dessen Folge der Tag der Jugend abgeschafft wurde.
Meint man jedoch nun, dass sich Irwin und die NSK an tagespolitischen Ereignissen abgear-beitet hätten, wäre dies gewiss ein ganz falscher Eindruck. Irwin/NSK haben immer wieder betont, dass es ihnen nicht so sehr um eine Kritik des Bestehenden ging, sondern dass ihnen primär der Aufbau und die Konstruktion von etwas Eigenem wichtig war (was natürlich eine durchaus komplexe Kritik der Verhältnisse darstellt). Schließlich, so ließen die Mitglieder von Irwin in den 1980er Jahren nicht nur einmal verlauten, seien sie keine Dissidenten, sondern „Staatskünstler“. Dieses ostentativ zur Schau gestellte Desinteresse an einer direkten Kritik
15 Laibach, zit. nach: Claudia Wahjudi, Zwölf Jahre musikalische Zitatenschlacht zwischen zwei konträren Sys-temen. Interview mit ‚Laibach’, in: Neues Deutschland, 13.8.1992.
16 Slavoj Žižek, Why are Laibach and NSK not Fascists?, in: M’ARS – Časopis Moderne Galerije V/3.4 (1993), S. 4.
17 Vgl. Alenka Barber-Kersovan, ‚Laibach’ und sein postmodernes ‚Gesamtkunstwerk’, in: Helmut Rösing (Hg.), Spektakel / Happening / Performance. Rockmusik als ‚Gesamtkunstwerk‘, Mainz 1993, S. 66-80.
18 Vgl. ausführlich dazu Inke Arns/Sylvia Sasse, Affirmation und Widerstand, 2004 [in Vorbereitung].
19 Vgl. The Economist, London, 14. März 1987, S. 49 und Profil, Wien, 13. April 1987, S. 56, zit. nach: Pedro Ramet, “Yugoslavia 1987: Stirrings from Below”, in: The South Slav Journal, Vol. 10, Nr. 3, Jg. 37 (Herbst 1987), S. 34. 6
der politischen Situation der 1980er Jahre hat in den Organigrammen, also den internen Auf-bau- und Funktionsschemata von Laibach Kunst bzw. der NSK (1984) eine ästhetische Form angenommen. Die Gruppen Irwin und NSK begriffen sich nämlich in den 1980er und 1990er Jahren als explizit staatsähnliche soziale Gefüge, die einen Ausgleich für das Fehlen eines Kontextes darstellten. Dies wird besonders deutlich in der für die Ausstellung neu erarbeiteten Installation Retroprinciple (2003), in der die Gruppe Irwin ihre Projekte der 1990er Jahre un-ter dem Motto „Konstruktion des Kontextes“ subsumiert.
Parallel zur Unabhängigkeitserklärung Sloweniens erfolgte 1991 die Gründung des NSK Staa-tes in der Zeit. Dabei handelt es sich um ein künstlerisches Staatsgebilde ohne ‚reales’ Terri-torium und ohne Staatsnation, das sich in zeitlichen Abständen an verschiedenen Orten in Form einer ‚Botschaft’ oder eines ‚Konsulates’ materialisiert. Außerdem stellt der NSK Staat auf Antrag Reisepässe aus, die als „confirmation of temporal space“ (NSK) gelten und von jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder Nationalität erworben werden können. Verschiedene Quellen berichten, dass während des Krieges in Bosnien-Herzegowina in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einigen Personen mittels dieses NSK-Reisepasses die Überquerung internationaler Grenzen geglückt sein soll – was ihnen sonst, in Ermangelung offizieller Dokumente ihres (noch) nicht anerkannten Staates, nicht gelungen wäre. Die Ap-propriation staatlicher Hoheitszeichen wie Botschaften, Konsulate, Pässe und anderer Insig-nien (z.B. Briefmarken), die temporäre Übernahme von Territorien und ganzer Armeen exis-tierender Staaten (NSK Garda) stellt ein ebensolches ambivalentes, weil gleichzeitig affirma-tives und widerständiges Konzept dar: Dieser Staat stellt durch seine bare ‚Existenz’ (die ei-gentlich eine ‚Nicht-Existenz’ ist) die Logik anderer bestehender staatlicher Gebilde in Frage.
Rétrograder pour mieux sauter
Das zentrale „Denkprinzip“ der Gruppe Irwin, auf dem alle ihre in diesem – zweiten – Kapitel dokumentierten Arbeiten beruhen, besteht in einer paradoxen, sich vorwärts schraubenden und Schleifen durch die Vergangenheit ziehenden Bewegung in die Zukunft. Während man mit den Begriffen ‚Sampling’ und ‚Loop’ die paradoxen Bewegungen der Gruppe auf einer linearen Zeitschiene charakterisieren kann – als Wiederholungen, denen es um ein Insistieren, ein Sich-Verhalten-Zu-Etwas, eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“ (Kierkegaard) geht – verweist der Begriff des Palimpsestes auf die Methode, nach der Irwin bestimmte Motive auswählt, sowie auf das Prinzip der ‚Verräumlichung’ zeitlich tiefer Schichtungen, nach dem die Gruppe ihre Bilder aufbaut.
‚Sampling’ bezeichnet im engeren Sinne in der Musik die Verwendung bzw. das Zitieren ‘vorgefundener’ Musikstücke, Bruchstücke oder Sounds. Im Gegensatz zum quasi selbstrefe-rentiellen („dionysischen“) Sampling, das Samples als Material zur Schaffung von Geräusch-texturen und -architekturen benutzt, ähnelt die Verwendung von Zitaten auf den Bildern von Irwin eher einer „fetischistischen“ Samplingmethode.20 Bei dieser Art des Samplings ist der Sample ein referentielles Objekt, das ausgewählt wird, weil es eine bestimmte Bedeutung hat – hier findet Erkenntnis durch Wiederholung statt. Das ‚Loopen’ erzeugt darüber hinaus eine Wiederholung, die „zugleich linear und zyklisch ist, eine Spiralbewegung, die Vergangenheit
20 Diedrich Diederichsen unterscheidet „nichtbedeutendes“ oder „dionysisches“ Sampling von „bedeutendem“ oder „fetischistischem“ Sampling. Während beim „dionysischen“ Sampling das Geräusch oder der Klang so lange wiederholt, isoliert und auch manipuliert wird, dass er nur noch auf sich selbst verweist, verwendet die andere Samplingmethode Geräusche und Klänge, die in einen „Zusammenhang gebracht werden sollen mit Ge-schichte, Bedeutungen, Positionen, Parteilichkeiten etc.” (Diedrich Diederichsen, „Zur musikalischen Technik in HipHop und Techno“, in: contd <http://www.art-bag.net/contd/issue2/dd.htm>. Vortrag am 13.6.1997 in der Akademie der Künste Berlin im Rahmen der Vortragsreihe ”Musik im Dialog”). 7
wiederholt, um Zukunft zu gewinnen, eine offene Schleife, die ihre Wirkungen als Ursache rückkoppeln kann.”21 Wiederholung ist bei Irwin (nachträglich) prospektive Erinnerung – nämlich eine „gegenwärtige Öffnung des Vergangenen auf Zukunft hin.“22
Mit dem Begriff des Palimpsests23 dagegen lassen sich zweierlei Dinge bezeichnen, die je-doch eng miteinander verbunden sind: einmal das Auswahlprinzip, nach dem die Gruppe Ir-win bestimmte Bilder (‚Prätexte’) für ihre Arbeit auswählt und zum anderen das produktions-ästhetische Verfahren, das auf den Bildern zur Anwendung kommt. Die Gruppe Irwin ver-wendet auf ihren Bildern nicht beliebige historische Versatzstücke, sondern wählt gezielt die-jenigen Bilder und Zeichen aus, denen im Lauf der Zeit und durch sich wandelnde Kontexte zusätzliche Bedeutungen und Konnotationen zugekommen sind. Diese Konnotationscluster oder Bedeutungsverdichtungen werden vor allem von bzw. an Zeichen gebildet, die rückbli-ckend solche Punkte in der Geschichte bezeichnen, an denen das Umschlagen von genuin utopischen Ansätzen in traumatische Erfahrungen festzumachen ist. Vor allem die von Irwin verwendeten Zitate aus der (sowjetrussischen) künstlerischen Avantgarde transportieren ne-ben ihrer ursprünglichen utopischen Bedeutung eine zweite Bedeutungseben, die vom Schei-tern eben dieser künstlerischen Utopien kündet: Die Zeichen werden neben der Beibehaltung des ursprünglichen Textes zu traumatischen Texten.
Wird ein solches Zeichen, Bild oder ein solcher Text wiederholt, werden neben der ursprüng-lichen Bedeutung gleichzeitig alle weiteren an dieses Zeichen angelagerten Bedeutungen bzw. Konnotationen aufgerufen. Genau diese Anreicherung mit immateriellen Schichten, dieses Mitnehmen der zusätzlich durch die Zeit akkumulierten Bedeutungen, lässt die ‚Texte’ zu schillernd mehrdeutigen und ambivalenten Zeichen werden, die in den Wiederholungen durch Irwin endlos zwischen ihren verschiedenen, oft auch widerstreitenden Bedeutungs- und Kon-notationsschichten changieren.
Die nachträglichen ‚Konnotationsakkumulationen’ sind somit einerseits Kriterium für die Auswahl bestimmter Bilder, andererseits rekonstruiert bzw. visualisiert die Gruppe Irwin in ihren Bildern, die man auch als „theoretische Objekte“24 bezeichnen könnte, diese eigentlich unsichtbaren Konnotationsschichten: zunächst, indem sie die übereinandergeschichteten und einander widersprechenden Texte entzerrt, dekomprimiert, verräumlicht, und dann, indem sie diese historischen Schichten und Konnotationen in Bildmontagen sichtbar macht und so in einen Dialog miteinander bringt. So verdeutlicht z.B. die Gegenüberstellung von einander diametral entgegengesetzten Zeichen in der Aktion Black Square on Red Square oder auf dem Bild Malewitsch zwischen zwei Kriegen die ambivalenten Bedeutungen von Bildzitaten der historischen Avantgarde in Form einer expliziten Ausformulierung dieser in der Avantgarde konfligierenden Bedeutungen. Irwin macht also mit der ‚Verräumlichung’ von Palimpsesten
21 Martin Conrads, „Samplermuseum“, in: Kunstforum International, Der gerissene Faden. Nichtlineare Techni-ken in der Kunst, hg. v. Thomas Wulffen, Bd. 155 (Juni-Juli 2001), S. 216-221, hier: S. 217f.
22 Eckehard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995, S. 19.
23 Ein klassisches Palimpsest ist eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift, bei Papyrus durch Abwi-schen, bei Pergament durch Radieren mit Bimsstein, beseitigt und durch eine jüngere ersetzt ist. Das Löschen der vorhergehenden Schrift(en) ist jedoch nie so total, dass die früheren Texte vollkommen verschwinden würden. Der Begriff des Palimpsestes steht – neben seiner klassischen Bedeutung – auf abstrakterer Ebene für eine Kon-zentration historischer, in Simultaneität gegebener Schichtungen. Diese bestehen aus „Überlagerungen divergen-ter, konfliktuöser historischer Schichten“, die den Leser bzw. Betrachter mit „derart massive[n] Widerstände[n]“ konfrontieren, dass die „Selbstreflexion des Lesens umschlägt in eine kommentierende Archäologie historischer Strata und deren Brüche, Interferenzen, Verschleifungen“. (Lobsien 1995, S. 81-82).
24 Peter Weibel, Probleme der Neo-Moderne, in: Ders. (Hg.), Identität : Differenz. Tribüne Trigon 1940 – 1990. Eine Topographie der Moderne, Kat. Graz 1992, S. 3-21, hier S. 20. 8
die Konflikte zwischen unterschiedlichen historischen Diskursen sichtbar.25 Die New Yorker Kunstkritikerin Kim Levin sagt daher über Irwin zu Recht: “Their paintings are full of conflicting pasts.”26
Dies kommt in Irwins bis heute mit über 500 Ölbildern wohl umfassendster Serie Was ist Kunst (seit 1985) am deutlichsten zum Ausdruck. 1996 begann die Gruppe in der Installation Irwin Live mit dem Herausdestillieren einzelner Motive aus ihrem über mehr als zehn Jahre zusammengetragenen reichen Bildfundus. Seit 1998 bezeichnet sie die so gewonnenen sechs Motive und die dazugehörigen ikonografischen Reihen als Irwin Ikonen. Die beiden Katalog-beiträge der Kunsthistoriker Daniel Spanke und Igor Zabel widmen sich ausführlich diesem neuen Werkkomplex. Mit der Installation Was ist Kunst Slowenien (2001) ging die Gruppe dazu über, nicht mehr die von ihr kollektiv gemalten, aus der europäischen Kunstgeschichte zitierenden Bilder auszustellen, sondern direkt Originale verschiedener Künstler aus Privat- und Museumssammlungen in typische Irwin-Rahmen zu fassen. Für die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 wird erstmalig die Installation Was ist Kunst Deutschland (2003) mit Leihgaben realisiert, die die deutsche Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Zusammen mit der dritten und letzten Version Was ist Kunst Russland, die in naher Zukunft produziert werden soll, erstellt Irwin so ein Panorama der für die Gruppe wichtigen kulturel-len Einflüsse und Bezüge.
Verbindungen schaffen
Für Künstler, die wie Irwin in Gruppen oder Kollektiven arbeiten, ist das Thema des „Schaf-fens von Verbindungen“ (3. Kapitel) ohne Zweifel ein besonders wichtiges. Dabei lassen sich zwei große Phasen voneinander unterscheiden: Während Irwin und die NSK in den 1980er Jahren selbst zu ihrem eigenen sozialen Kontext wurden und ihr Interesse folglich nach innen gerichtet war – das Kollektiv kommunizierte nur durch ‚Nicht-Kommunikation’ mit einem ‚Außen’ – öffnet sich die Gruppe (hier vor allem Irwin) in den 1990er Jahren zunehmend und lädt externe Teilnehmer – Kuratoren-Kollegen, aber auch befreundete Künstler – zur Mitar-beit an Projekten ein. War die Perspektive in den 1980er Jahren vor allem eine lokale, weitete sie sich in den 1990er Jahren auf eine globale, die vor allem die Situation Osteuropas im Blick hat.
Zentral für Irwins Netzwerkstrategie der 1990er Jahre sind in dieser Hinsicht der 1991 ge-gründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) und das Transnacionala-Projekt von 1996. Das Konzept des immateriellen NSK Staates in der Zeit führt weg von dem für die 1980er Jahre gültigen Selbstverständnis der NSK als hermetischer und statischer Entität. Es betont im Gegensatz dazu das Moment der Kommunikation, der offenen Interaktion, der Be-wegung, des Erfahrungsaustausches und des Netzwerkens. Im Rahmen der NSK Embassy Moscow (1992) z.B. reisten die Mitglieder der NSK gemeinsam nach Moskau und eröffneten in einer Privatwohnung eine temporäre ‚Botschaft’ des NSK Staates in der Zeit. Dort fanden während eines Monats im Rahmen von Vorträgen von Irwin als auch Vorträgen eingeladener TheoretikerInnen und Künstler Diskussionen zur Funktion und Bedeutung der Kunst der 1980er Jahre in Jugoslawien und der Sowjetunion statt. Das Projekt wurde in der Publikation NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East dokumentiert.27
25 Vgl. dazu ausführlich Inke Arns, Objects in the Mirror may be Closer Than They Appear: Die Avantgarde im Rückspiegel, Phil.-Diss., Humboldt-Universität zu Berlin 2003 [unveröffentlichtes Typoskript].
26 Kim Levin über Irwin, in: Michael Benson (Regie), Predictions of Fire, Dokumentarfilm über die NSK, 16 mm-Film (Produktion: RTV Slovenija & Kineticon Pictures), 90 min., Ljubljana 1995.
27 Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East, Koper o.J. [1992/93]. 9
Im Sommer 1996 startete eine internationale Gruppe von zehn Künstlern (Alexander Brener, Vadim Fiškin, Jurij Lejderman, Michael Benson, Eda Čufer und die fünfköpfige Irwin-Gruppe) in zwei Wohnmobilen zu einer einmonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten. Dieses Projekt, das von den Reisenden ein Zusammenleben auf engstem Raum forderte (zehn Leute auf zehn Quadratmetern), wurde zu einer „experimentellen, existentiellen Situation“ (Eda Čufer) für die TeilnehmerInnen. Ziel dieser Reise war es, sich über Kunst, Theorie und Politik im Kontext zeitgenössischer Kunst auszutauschen. Während der Fahrt über die ameri-kanischen Highways, auf Rastplätzen, in Motels, in der Mojave Wüste und am Grand Canyon diskutierte die Gruppe über diese Themen sowie über die (Un-)Möglichkeit einer osteuropäi-schen Identität in der Kunst. Zwischendurch wurden Stationen in Atlanta, Richmond, Chica-go, San Francisco und Seattle gemacht, an denen diese Themen mit VertreterInnen lokaler Künstlercommunities diskutiert wurden. Das Reiseprojekt ist in der 1999 von Eda Čufer herausgegebenen Publikation Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art dokumentiert worden.28
Diese auf Vernetzung und Austausch angelegten Projekte der 1990er Jahre – Viktor Misiano nennt sie „konfidentielle Projekte“29 – zeugen von einem grundlegenden Wandel des Begriffs Kommunikation insofern, als nicht mehr nur intern innerhalb der Gruppe (als Ersatz eines nichtvorhandenen ‚Außen’) kommuniziert wird, sondern sich im Gegenteil das gesamte Selbstverständnis der Gruppe hin zu einem Hersteller von Kommunikation gewandelt hat.
Östlicher Modernismus
Das vierte Kapitel der vorliegenden Anthologie widmet sich den Versuchen der Gruppe Irwin, aktiv in die nach wie vor gültige ‚große Erzählung’ der westlich dominierten Kunstgeschichte einzugreifen. So konstruiert z.B. Irwins Installation Retroavantgarde für den geographischen Raum Jugoslawiens eine fiktive Kunstrichtung der „Retroavantgarde“, deren Wurzeln auf verschiedenen Schaubildern und anhand der Arbeiten angeblich dieser Richtung angehörender Künstler bis in die 1910er bzw. 1920er Jahre zurückverfolgt werden können. Retroavantgarde „ist ein komplexes künstlerisches Statement, das über das Fehlen eines stabilen kunsthistori-schen Narrativs moderner und zeitgenössischer Kunst in Slowenien, Jugoslawien und generell in Osteuropa reflektiert. Die künstlerischen Errungenschaften dieser Regionen haben es nicht geschafft, Teil des westlichen Kanons zu werden oder selbst ihr eigenes konsistentes Meta-Narrativ zu entwickeln.“30
Als Reaktion auf diesen doppelten Mangel greift die Gruppe mit einer für sie typischen Geste auf einen für die Definition und Herleitung des Modernismus zentralen Baustein zurück: auf Alfred H. Barrs Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935.31 Dieses 1936 vom Gründungsdirektor des New Yorker Museums of Modern Art (MoMA) entwickelte Dia-gramm fasst im Sinne einer ästhetischen Evolutionstheorie die europäischen Avantgardebe-wegungen als Vorläufer der (geometrischen wie nicht-geometrischen) abstrakten Kunst des Modernismus auf. Mit einer ähnlich anmaßenden Haltung überträgt Irwin dieses Schema nun auf Jugoslawien, hier allerdings in Form einer umgekehrten Genealogie der „Retroavantgar-
28 Eda Čufer (Hg.), Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art, Ljubl-jana 1999. Zur Irwins Installation Transnacionala vgl. Inke Arns, Transnacionala as lieu de mémoire, or: Ceci n’est pas un monument, unveröffentlichtes Typoskript (März 2000).
29 Vgl. Viktor Misianos Text „Die Institutionalisierung der Freundschaft“ in diesem Katalog.
30 Roger Conover/Eda Čufer, Irwin, in: Roger Conover/Eda Čufer/Peter Weibel (Hg.), in search of Balkania. A manual, Graz 2002, S. 66-70, hier S. 67.
31 Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, The Barr Effect. New Visualizations of Old Facts, in: Branislav Dimitrijević, Dejan Sretenović (Hg.), International Exhibition of Modern Art featuring Alfred Barr’s Museum of Modern Art, New York, Belgrad 2003, S. 49-59. 10
de“, die von der Neo-Avantgarde der Gegenwart bis zur Periode der historischen Avantgarde zurückreicht.
Darüber hinaus entwickelt Irwin als Alternative zu den großen Erzählungen des Westens die Strategie des ‚Östlichen Modernismus’, die die Gruppe erstmals 1990 im Kontext der Ausstel-lungsreihe Kapital32 formulierte. Indem die Gruppe die Existenz eines ‚Östlichen Modernis-mus’ behauptet, greift sie auf polemische Weise den sich selbst als universal gültig setzenden Modernismus der Barrs und Greenbergs an. Mit der Partikularisierung des Begriffs suggeriert Irwin indirekt, dass es sich beim Modernismus eigentlich um einen ‚Westlichen Modernis-mus’ handelt, der eben nicht universale Gültigkeit hat.
Als neuer, ‚Östlicher Modernismus’ soll die Retroavantgarde nun der sich universal gebenden westlichen Partikularität entgegengesetzt werden. Mit der Installation Retroavantgarde, die sowohl ein eigenständiges Kunstwerk als auch ein kartografisch-pragmatisches Instrument ist und 1997 erstmals in der Kunsthalle Wien gezeigt wurde, setzt Irwin das um, was (nicht nur) Osteuropa über lange Zeit (sowohl lokal durch die spezifische politische Situation als auch durch den bereits erwähnten internationalen Diskurs) verwehrt war: eine eigene und eigen-ständige Kunstgeschichtsschreibung. Irwin (re)konstruiert bzw. setzt einen Osteuropa eigenen Modernismus, indem die Gruppe die Existenz einer fiktiven jugoslawischen Retroavantgarde-Bewegung postuliert. Allerdings stellt sich heraus, dass dieser ‚östliche Modernismus’ min-destens genauso konstruiert, fiktiv und künstlich ist wie sein westliches Pendant.
Neben künstlerischen Installationen stellen Kunstsammlungen im Allgemeinen und Samm-lungspolitik im Besonderen für Irwin ein bevorzugtes Instrument dar, um aktiv in die Kunst-geschichte einzugreifen. Da die „Logik der Sammlung“33 für die Unsichtbarkeit zeitgenössi-scher osteuropäischer Kunst im Westen34 verantwortlich gemacht wird, gilt es nicht nur, die westliche Sammlungslogik zu kritisieren, sondern dieser eine eigene „Logik der Sammlung“ entgegenzustellen. Die Gruppe wirkt daher seit Ende der 1980er Jahre an der Gründung ver-schiedener Kunstsammlungen mit (FRA-YU-KULT, Sarajevo 2000 und 2000+ ArtEast) und hat mit einem ihrer jüngsten Projekte (East Art Map – A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, 2002) unter dem Motto „History is not given. It has to be constructed”35 eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwischen 1945 und der Gegenwart initiiert, die sich jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung’ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen be-wegen soll.
Ermöglicht wurde diese Anthologie – wie auch die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 – durch eine großzügige Zuwendung der Kulturstiftung des Bundes. Christoph Tannert, künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien (Berlin), begeisterte sich frühzeitig für dieses Projekt und schlug vor, die Ausstellung parallel zu Berlin – Moskau, Moskau – Berlin 1950-2000 im Künstlerhaus Bethanien stattfinden zu lassen. Die Übernah-men der Ausstellung durch das Karl Ernst Osthaus-Museum (Hagen) und das Museum of Contemporary Art (Belgrad) sind der Initiative von Dr. Michael Fehr, Direktor des Karl Ernst
32 Irwin, Kapital, Kat. Ljubljana 1991. Die erste Ausstellung im Rahmen von Kapital fand im Dezember 1990 in der Equrna galerija in Ljubljana statt.
33 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung, München/Wien 1997, S. 159.
34 Diese Unsichtbarkeit hat wesentlich mit dem ‚westlichen’ Blick zu tun, der eigene Partikularitäten zu universal gültigen Wertmaßstäben verklärt: Wenn zeitgenössische osteuropäische Kunstproduktionen von den uns bekann-ten Mustern abweichen, sind sie provinziell und damit uninteressant. Wenn sie sich jedoch mit unseren bekann-ten Vorbildern messen können und diesen zu ähneln scheinen, so ist das dem westlichen Blick ein Beweis für ihre Unoriginalität (vgl. Groys 1997, S. 159).
35 Irwin, East Art Map – A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, Plakat, 2002. 11
Osthaus-Museums in Hagen und Dejan Sretenović, Chief Curator am Museum of Contempo-rary Art in Belgrad zu verdanken. Ein herzlicher Dank gilt auch allen Leihgebern und Leihge-berinnen, die durch das Zurverfügungstellen der Exponate diese Ausstellung überhaupt erst ermöglicht haben. Besonders sei auch allen Autorinnen und Autoren gedankt, die uns alle ohne Ausnahme die Rechte zum Wiederabdruck ihres bzw. ihrer Texte eingeräumt haben und so zur Entstehung eines Katalogbuches beigetragen haben, das international die erste, das Gesamtwerk der Gruppe umfassende Publikation zu Irwin darstellt. Und nicht zuletzt sei den Künstlern der Gruppe Irwin für eine intensive und anregende Zusammenarbeit gedankt.
Erschienen in:
Inke Arns (Hg./ed.)
Irwin: Retroprincip 1983-2003
September 2003
Deutsch: ISBN 3-936919-51-8
English: ISBN 3-936919-56-9
ca. 250 Seiten/pages
ca. 110 Farbabbildungen/color reproductions
30,5 x 24,5 cm
ca. 25 €
Eine Antwort auf „Struktur / structure“
https://nskstate.com/article/why-are-laibach-and-nsk-not-fascists/