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Alienation Kritik Material

2 Interviews

  1. Interview, aus dem Jahre 2019, geführt mit Joseph Vogl. Es beginnt prätentiös mit der Einleitung wird dann aber doch recht schnell ein Gespräch, dass ich gerne gelesen habe: geht um Probleme, Antworten&Fragen, zum Ende gar noch um Glück. Hier zu finden: https://www.praeposition.com/text/interview/joseph-vogl
  2. Interview, ganz frisch 2024, geführt mit Helmut Draxler. Auch hier der Start spezifisch, den Kunstverein München betreffend, dann geht es um Kunst und Politik, die Differenzen von Kunst und Politik, die Nützlichkeit der Psychoanalyse und dass Krise bedeutet die Kommunikation zu suchen und nicht sich zu verkriechen.
„Die Vorstellung eines Raums ohne Probleme erscheint mir zutiefst suspekt“
Helmut Draxler im Gespräch mit Jonas von Lenthe
Installationsansicht / Installation view, 15 Jahre 1980, Kunstverein München, 1995; Foto / photo: Ingrid Scherf.
Das vorliegende Gespräch mit Helmut Draxler, der von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstverein München war, entstand als Reaktion auf den Archivnewsletter Nr. 11 (April 2023), der sich mit dem Projekt faschismusersatz auseinandersetzte. Das Film- und Veranstaltungsprogramm, das 1993 unter anderem im Kunstverein München stattfand, reagierte auf die beunruhigende Zunahme neonazistischer Aktivitäten in deutschen Städten und auf ein neues gesamtdeutsches Nationalbewusstsein jener Zeit. Das Programm erstreckte sich über vier Monate und setzte sich aus Filmvorstellungen, Lesungen und Diskussionen im Kunstverein, im Backstage Club und im Neuen Theater München zusammen. Die Initiator*innen des Projektes richteten ihren Fokus unter anderem auf die Kontinuitäten des Faschismus in der deutschen Gesellschaft. faschismusersatz und sein historischer Kontext bilden den Ausgangspunkt für dieses Gespräch. Im Folgenden geht es um das widersprüchliche Verhältnis von Kunst und Politik, den Begriff der „Repolitisierung“, die Verstaatlichung von Erinnerungspolitik und heutige Formen des politischen Aktivismus.


Jonas von Lenthe: Du warst von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstvereins, Hedwig Saxenhuber die Kuratorin. Aus heutiger Sicht ist es beeindruckend, wie sich in eurem Programm diskursive, künstlerische und aktivistische Ansätze getroffen haben. Diese Gemengelage stellt den Kontext für das Film- und Veranstaltungsprogramm faschismusersatz dar, das 1993 unter anderem im Kunstverein stattfand. Wie würdest du dieses Zusammentreffen der unterschiedlichen Ansätze insbesondere in Hinblick auf das oft in diesem Kontext verwendete Schlagwort der Repolitisierung beschreiben?

Helmut Draxler: Die Veranstaltung faschismusersatz hatte ich damals ja nur ermöglicht, indem ich die Räumlichkeiten des Kunstvereins zur Verfügung gestellt habe, ohne sie aktiv mitzugestalten. Auch wenn die Veranstaltung also nicht den Kern unseres Programms darstellte, so steht sie doch für etwas Wichtiges. An diesem Beispiel lässt sich gut über eine Reihe von Fragen nachdenken: Welchen politischen Stellenwert hatte faschismusersatz damals? Wie kam es überhaupt dazu, in einem Kunstverein eine solche Veranstaltung zu machen? Und wie kann man aus der heutigen Perspektive auf sie blicken, in der sich die politischen Konstellationen wieder so deutlich verändert haben?Du hattest das Stichwort der Repolitisierung genannt, das damals in aller Munde war, nach den 1980er Jahren, in der die Politisierungswelle der 70er Jahre ja noch einmal unterbrochen wurde. In den 80ern wurde auf andere Formen künstlerischer und kultureller Repräsentation gesetzt. Rückblickend lässt sich feststellen, dass dies der letzte Einspruch sowohl gegen die Politisierung als auch gegen die Akademisierung der Kunstwelt war. So gab es in den 1980er Jahren zumindest in Europa nur ganz wenige diskursive Veranstaltungen. Erst ein für uns damals neuer Impuls aus den USA änderte das. Der Diskurs war eine Art Schnittstelle zwischen der Politik und der Kunst; man denke an die berühmten Aufsatzsammlungen der Zeit, wie Hal Fosters The Anti-Aesthetic: Essays on Postmodern Culture (1983) oder Brian Wallis’ Art after Modernism. Rethinking Representation (1984), die diese Entwicklung entscheidend angestoßen haben, indem sie eine linke Lesart der Postmoderne vorgeschlagen haben. Das hat uns am Kunstverein dazu gezwungen, nicht einfach nur ein Programm zu machen, sondern auch ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich Kunst überhaupt verorten lässt, im Verhältnis zu Diskurs und Politik ebenso wie im historischen Sinn, insbesondere in Bezug auf die Tradition der Avantgarde. Und wie lässt sich eine solche Konstellation im Rahmen der konkreten Arbeit am Kunstverein überhaupt darstellen?
faschismusersatz. film- und veranstaltungsprogramm. texte, filme, diskussionen zu faschismus, widerstand und postdemokratischen kontrollsystemen (ersatz facism. film and event program. texts, films, discussions on fascism, resistance and post-democratic control systems), München: Selbstverlag / Munich, self-published, 1993.
JvL: Du hast gerade in Wien gemeinsam mit Antonia Birnbaum eine Konferenz mit dem Titel Dialektik und Anti-Dialektik [1] organisiert. In deinem Vortrag Der Entzug des Denkens stellst du eine „Krise des Denkens“ fest und bringst diese in einen Zusammenhang mit den sich gegenüberstehenden Denkansätzen der Dialektik und der Anti-Dialektik. Du sagst auch, dass deine Generation von einem beispiellosen Siegeszug der Anti-Dialektik geprägt ist – vor allem im Namen des Post-Strukturalismus und den daran anschließenden Bewegungen zwischen Post-Operaismus und Neuem Materialismus, Gender, Queer und Postcolonial Studies. Könntest du die Diskurstraditionen dieser beiden Lager beschreiben? Wo würdest du euer Programm am Kunstverein in diesem philosophischen Konflikt zwischen Dialektik und Anti-Dialektik verorten?

HD: Wir waren damals alle sehr starke Anhänger*innen der Anti-Dialektik: Insbesondere Gilles Deleuze und Félix Guattari mit ihrem Anti-Ödipus von 1972, aber auch Jacques Derrida. Diese Kerntexte der französischen Theorie, die für uns zentral waren, verstanden sich seit den 1960er Jahren in ihrer Bewegung gegen Hegel wesentlich anti-dialektisch, also nietzscheanisch. Gleichzeitig, und ich denke, das war uns damals gar nicht bewusst, gab es natürlich immer auch ein Flirten mit der Dialektik, also mit Hegel. Aus diesem Grund ist auch die Lacan-Schule etwa um Slavoj Žižek in Ljubljana dann später immer wichtiger geworden. Für mich war Žižek damals zumindest eine Bestätigung, der Anti-Dialektik nicht in dem Sinne zu folgen, dass sich alles in Mikrodifferenzen auflöst, so, wie Deleuze in der Techno-Community in den 1990er Jahren rezipiert oder für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz produktiv gemacht wurde. Die Vorstellung, es gebe keine Unterscheidung mehr zwischen Kunst und Kultur oder zwischen Kunst und Politik, alles seien bloß „kulturelle Praktiken“ und darin löse sich alles in gleichsam empirische Differenzen auf, die man endlos ausbreiten kann, ist mir zunehmend unheimlich geworden.Meine konkrete Erfahrung war nämlich, und ich war damals selbst noch ein ganz großer Deleuze-Fan, letztlich eine andere. Meine Erfahrung war, dass sich diese Begriffe nicht einfach auflösen und dass wir eher versuchen müssen, mit den historischen Differenzen und den damit gegebenen Widersprüchen umzugehen. Und das heißt natürlich Dialektik! Es bedeutet, Kunst und Politik nicht einfach auf ein gemeinsames Programm der unendlichen Differenzierung zu projizieren, sondern sie in ihrer Differenz anzunehmen und in ihrer Konflikthaftigkeit zu diskutieren. Deshalb gab es am Kunstverein München ein Kunstprogramm, und es gab eben auch ein politisches Programm, im Gegensatz zu den vielen Vermischungsansätzen andernorts – man denke an die sogenannten Berliner Zusammenhänge oder die Shedhalle in Zürich – die versucht haben, die Differenzen total ineinander aufzulösen, und keine Differenzierung mehr zuzulassen.Deswegen war es so wichtig, nicht nur zwischen den künstlerischen und den politischen Ansätzen, sondern auch innerhalb des offiziellen Programms eine Differenz aufrechtzuerhalten, etwa zwischen ganz klassischen und unglaublich schönen Ausstellungen, wie zum Beispiel Louise Lawlers A Spot on the Wall von 1995 und dem „totalen Chaos“ bei der Sommerakademie von Stephan Dillemuth. Genau das sollte den Reiz ausmachen: die Besucher*innen sollten immer wieder mit Dingen konfrontiert werden, die sie nicht erwarten. Das Denkmodell dahinter ist eben im Wesentlichen ein dialektisches, das nicht auf die Auflösung der Kategorien setzt, sondern davon ausgeht, dass wir nur aus den Kategorien heraus mit diesen sinnvoll, das heißt in Bezug auf Negation und Widerspruch arbeiten können.
Installationsansicht / Installation view, Louise Lawler: A Spot on the Wall, Kunstverein München, 1995; Foto / photo: Wilfried Petzi.
JvL: Dir ist also wichtig zu betonen, dass faschismusersatz eine politische Veranstaltung war, die nicht den Anspruch hatte, als künstlerisches Projekt zu wirken?

HD: Ja, absolut. Dass faschismusersatz am Kunstverein stattfand, hatte ja vor allem damit zu tun, dass es damals schwierig war für diese – ich nenne sie mal – postautonomen Szenen in München Räume zu finden, weil München halt München ist. Daraus ergab sich überhaupt erst das Interesse. Gleichzeitig kam in den frühen 90er Jahren, vor allem von Hamburg ausgehend, in den sogenannten Wohlfahrtsausschüssen die Idee auf, man müsse wieder Bündnisse suchen zwischen der Pop-, Politik- und Musikszene. In diesem Kontext war es für uns wichtig daran festzuhalten, dass wir an einem Abend durchaus eine politische oder auch eine theoretische Veranstaltung machen können, dass dies jedoch nicht unbedingt Teil des offiziellen, künstlerischen Programms sein muss. Wir unterlegten diesen Veranstaltungen also zumindest keinen direkten Kunstcode, sondern ließen sie erstmal für sich funktionieren. Erst später sind daraus dann auch gemeinsame Projekte entstanden.

JvL: Welche Rolle hat die Psychoanalyse in den diskursiven Strömungen gespielt, in denen ihr euch damals aufgehalten habt?

HD: Für mich war die Psychoanalyse eine ganz entscheidende, grundlegende Erfahrung. Ich war seit den frühen 80er Jahren in psychoanalytischen Lesegruppen aktiv, doch gleichzeitig gab es dieses Verdikt von Deleuze und Guattari gegen die Psychoanalyse. Dieses Verdikt abzustreifen – ohne deshalb Deleuze und Guattari vollkommen zu verabschieden – stellte die Voraussetzung dar, mich auch persönlich immer stärker in psychoanalytische Denk- und Praxisformen zu involvieren. Im Laufe der 90er Jahre wurde die Psychoanalyse für mich zum wesentlichen Bezugspunkt, weil sie ein Modell dafür anbietet, wie man mit Widersprüchen und unterschiedlichen Meinungen auf persönlicher, sozialer, institutioneller und letztlich auch politischer Ebene umgehen kann. Gerade der praktische Aspekt war das wirklich Faszinierende daran: Wie kann man Polaritäten und Widersprüche nicht nur denken, wie in der philosophischen Tradition, sondern wie kann man sie an sich selbst und in kleinen Gruppen im psychodynamischen Prozess erfahren?Genau das scheint mir ja auch die große Frage unserer Gegenwart zu sein: Welchen inneren, psychologischen und welchen sozialen Raum gibt es überhaupt noch, in dem man die unterschiedlichen Meinungen aushalten und die Konflikte um ihre Differenz austragen kann? Auf allen Seiten überwiegen ja die Versuche, jede Gegenposition möglichst vollständig zu diskreditieren – was man gemeinhin Canceln nennt –, um sie in der auch für einen selbst verstörenden Dimension nicht wahrnehmen und sich dementsprechend nicht mit den eigenen Anteilen am jeweiligen Konflikt auseinandersetzen zu müssen. Psychoanalytiker wie Wolfgang Trauth oder Stavros Mentzos hatten solche Dynamiken als ein interpersonales Delegationsgeschehen in dem Sinn beschrieben, dass wir ständig eigene Anteile unserer bipolaren Motivations- und Bedürfnisstrukturen an andere auslagern, um deren grundlegende Konflikthaftigkeit nicht in und mit uns selbst austragen zu müssen. So kann ich mich als gut, liebevoll und anderen zugewandt begreifen, während die anderen böse, egoistisch oder gierig sind. Aus diesem interpersonalen Delegationsgeschehen lässt sich lernen, dass es nicht einfach die Anderen sind, die an den aktuellen Konflikten Schuld sind, die Medien oder irgendwelche Verschwörungen, sondern letztlich auch wir selbst. Von hier aus wird auch der Furor verständlich, der einen sofort trifft, wenn man versucht, aktuelle Konflikte nicht im Sinne einer solchen Schuld-Delegation zu adressieren. Wenn man nicht die Begriffe „Terror“, „Genozid“, „Pogrom“ oder „Apartheid“ verwenden möchte, verrät man gleich die ganze Bewegung, oder schlimmer noch, geht einen Kompromiss mit dem Gegner ein, in jedem Fall ist man ein moralisch vollkommen diskreditierter Mensch. Allerdings verursachen solche Mobilisierungsstrategien, dass der symbolische Ort, der Politik überhaupt erst möglich macht, verhindert und verstellt wird, sodass nur mehr die Bekenntnishaftigkeit von Politik übrigbleibt.

JvL: Was du ansprichst, bringt mich zurück zum eigentlichen Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Denn ging es bei faschismusersatz nicht auch gerade um den internalisierten Faschismus, also um die Frage, welches faschistische Potential in mir selbst steckt?

HD: Ja, das ist richtig. Ich denke, dieser Hintergrund im gleichsam alltäglichen Faschismus war sehr wichtig, in den Kontinuitäten auf der sprachlichen, mentalitätsgeschichtlichen und habituellen Ebene. Er war gleichzeitig auch der Ausgangspunkt für Adrian Pipers Ausstellung: hierbei ging es darum zu sagen, dass der Rassismus nicht delegiert werden kann; er findet nicht „drüben“, bei den anderen in der ehemaligen DDR statt, sondern im Hier und Jetzt. Rassismus ist allgegenwärtig und fordert uns alle heraus.
Installationsansicht / Installation view, Sommerakademie, Kunstverein München, 1994.
Man könnte sagen, dass das politische Projekt, der faschismusersatz, und das künstlerische Projekt von Adrian Piper dahingehend konvergierten, dass man dem zuvor beschriebenen Delegationsgeschehen zwar mit Sicherheit nicht gänzlich entkommen kann, dass es aber Momente gibt, an denen man innehalten kann und sich ansehen kann, was es mit uns genau auf der Ebene einer möglichen Politisierung macht. Vor diesem Hintergrund kann ich etwa keinen Antirassismus vertreten, der die Form einer absoluten Reinheitsfantasie annimmt – denn den differenz- und konfliktfreien Raum gibt es nicht. In einer solchen Fantasie reproduziert sich etwas von dem Rassismus, auf den ich bei den anderen zeige, um mich in dem Moment selbst davon freizusprechen. Genau darin liegt die Gefahr einseitig moralischer Zuspitzungen. Ich habe mehr Vertrauen zu Leuten, die sich ihre eigene Fehlbarkeit zumindest ein wenig eingestehen. Wir leben grundsätzlich in einem sozialen Raum, der von Unterschieden geprägt ist – das macht ihn erst zu einem sozialen Raum –, aus dem wir nicht vollkommen ausbrechen können. Die Vorstellung eines Raums ohne Probleme erscheint mir hingegen zutiefst suspekt, auch dort wo nur implizit mit ihr geliebäugelt wird.

JvL: Der Ansatz, den internalisierten Faschismus und Antisemitismus zu reflektieren, taucht auch bei den Antideutschen als Intervention innerhalb der deutschen antifaschistischen Bewegung in den frühen 90er Jahren auf. Während dieser Ansatz ja durchaus produktiv ist, kam es im Laufe der kommenden Jahre zur „problematischen Zuspitzung zu einem neuen Hauptwiderspruch“ der antideutschen Position, wie du es in unserem Vorgespräch formuliert hast. Ebenso hast du an meinem Text zu faschismusersatz im Archivnewsletter Nr. 11 kritisiert, dass Dirk Moses’ Analyse, auf die ich mich unter anderem beziehe, dem historischen Kontext von faschismusersatz nicht ganz gerecht wird. Denn in diesem Fall handelte es sich eben nicht um verstaatlichte Erinnerungspolitik, sondern um ein linkes, selbstorganisiertes Format in Opposition zum rechten Klima jener Zeit – Anschläge auf Asylunterkünfte, Schlussstrichforderungen und Neonazi-Aufmärsche –, das eine Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Faschismus forderte. Welche Prozesse haben in deinen Augen bei den Antideutschen zu jener „problematischen Zuspitzung zu einem neuen Hauptwiderspruch“ geführt?

HD: Welche historischen Dynamiken im Spiel sind, also die Frage, was zwischen heute und damals liegt, das ist natürlich die schwierigste Frage überhaupt! Selbstverständlich kann man nicht jede Form der Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf die aktuellen verstaatlichten Aneignungsformen reduzieren; auch, dass die Deutschen dies aus einem tief verinnerlichten Schuldkomplex heraus täten, halte ich für eine fragwürdige Argumentation. Und ich stimme dir zu, die innerlinke Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus, die die Antideutschen forderten, war mit Sicherheit wichtig. Doch wie kommt es, dass eine eigentlich so marginale linksradikale Bewegung, die in den sektiererischen K-Gruppen [2] der 70er Jahre wurzelt und über nicht mehr als ein paar marginale Zeitschriften verfügte, sich in ihrer Argumentationslogik heute scheinbar widerstandslos in die offizielle Staatspolitik mit Antisemitismusbeauftragten und einer entsprechenden Staatsräson einschreibt? Die Zeitschrift Jungle World, die ja über viele Jahre ein wichtiges Organ für linke Auseinandersetzungen war, hat heute scheinbar keine Scheu, auch einen ehemaligen israelischen General zu interviewen, der den aktuellen Konflikt aus einer rein militärischen Perspektive beurteilt. Das geht doch sehr viel weiter, als ich das für eine linke Perspektive bereit wäre für legitim zu halten. Unheimlich daran ist gerade, wie sich ein solches grundsätzlich wichtiges und interessantes, szenebezogenes Reflexionsprojekt in seiner politischen Positionierung heute kaum mehr von den konservativen Zeitungen FAZ und Die Welt unterscheiden lässt. Das heißt, es gibt hier keine Auseinandersetzung mehr, sondern nur ein Festhalten an einmal erworbenen Wahrheitspositionen. In meinen Augen steht dahinter allerdings eine wahnsinnige Angst, ein nicht-mehr-Vertrauen-können auf die eigene Argumentationskraft.Doch zurück zu deiner Frage: Für mich ist es auch ein Rätsel, warum manche Argumentationsweisen diese unheimlichen, geradezu widersinnigen Karrieren machen, die scheinbar quer zu allen Logiken von Dominanz und Marginalisierung stehen. Die Frage bleibt mithin, wie sich daran noch anschließen lässt. Wie gesagt, grundsätzlich ist die Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus wichtig, und natürlich mit jeder Form von Faschismus auf allen Ebenen, seiner Geschichte, seiner Verinnerlichung, seinen psychosozialen Dimensionen. Doch wenn ich den Antisemitismus zum neuen Hauptwiderspruch mache, also ein Muster herstelle, mit dem die ganze Welt interpretiert werden soll, dann löst das natürlich enorme Widersprüche aus, weil andere in durchaus legitimer Weise die Welt auch anders sehen können.
Vanilla Nightmares von / by Adrian Piper als Teil der Ausstellung / as part of the exhibition Adrian Piper Retrospektive, 1992; Foto / photo: Wilfried Petzi.
JvL: Siehst du einen Zusammenhang zwischen diesen Zuspitzungslogiken und dem Siegeszug der Anti-Dialektik, wie du ihn in der Philosophie seit den 90er Jahren festmachst?

HD: Ich denke, da gibt es mit Sicherheit Überlagerungen. Die Zuspitzung ist natürlich ein Teil des linken Erbes – schon immer waren die Genoss*innen von gestern die Feinde von heute nach dem Muster von „wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“. Genau dieses Erbe, die Aufeinanderfolge von unbedingten Wahrheitsansprüchen, die nicht selten mit religiösen Erlösungsvorstellungen überkodiert sind, gilt es in Frage zu stellen. Solchen Wahrheitsansprüchen würde ich entgegnen, dass die Stärke des linken Denkens gerade darin besteht, dass es sich eben nicht von selbst versteht, dass es mit vielen Problemen befrachtet ist, dass es aber von einer Art von Überzeugung getragen ist, dass sich die Auseinandersetzung um diese Probleme lohnt. Die eigene Position nur immer weiter zuzuspitzen, in der Hoffnung, irgendwann zum wahren Antagonismus zu gelangen, an dem sich dann die Konflikte lösen und die Welt gut werden wird – ich glaube, über 200 Jahre nach der Französischen Revolution können wir so nicht mehr an die Welt herantreten. Der so erbärmliche Zustand der Linken heute besteht ja gerade darin, dass wir nicht wissen, warum die Leute die Rechten wählen und sich von ihnen so angezogen fühlen. Wir haben keine klare Theorie, die das erklärbar macht, und dann bleibt nur mehr übrig, die alten Besitzstände in Bezug auf soziale und kulturelle Absicherungen zu verteidigen. Das entspricht einer Logik, die die Effekte der eigenen Aussagen und des eigenen Handelns nicht mehr mitdenken kann. Und es ist auch eine Frage der Form, wie mein zugespitztes Argument wirkt, welche Effekte es hat, wenn ich der anderen Person an den Kopf werfe, wie reaktionär und unreflektiert sie hinsichtlich ihrer kapitalistischen, kolonialistischen, sexistischen Dimensionen ist.Darin, also in dem, was die Linke ausschließt, indem sie es zurückstößt, liegt die Kehrseite der Zuspitzung. Was machen wir mit denen, die nicht so denken wie wir? Es gab die Guillotine, den Gulag, die maoistischen Umerziehungslager. Das ist eine Gewaltgeschichte, die ganz massiv innerhalb der Linken situiert ist, die man nicht einfach so fortschreiben kann. Das heißt, es gibt gute Gründe für eine Auseinandersetzung mit der Frage der politischen Form. Georg Lukács und andere haben bereits in den 30er Jahren gesagt, dass wir eine marxistische oder linke Ästhetik brauchen, denn die formalen Probleme lösen sich nicht von selbst. Solche Formfragen können ästhetische Fragen sein, sie können sogar mit dem von vielen verteufelten Geschmack zu tun haben, aber sie können eben auch politischer Natur sein. Für den aktuellen Aktivismus scheint mir dies eine ganz entscheidende Frage zu sein.

JvL: Wie sähe denn eine Form des Aktivismus aus, die ohne eine solche Lösungsgewissheit funktioniert?

HD: Der Aktivismus tendiert aus seiner inneren Logik heraus dazu, die Probleme als schon erledigt zu behandeln; dass man sie nicht mehr denken muss, sondern nur noch im Sinne der Aktion exekutieren muss. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, dass der Aktivismus zum einen stets von einer politischen Reflexion begleitet wird, die immer wieder Zielsetzungen und Methoden, gewollte Ergebnisse und ungewollte Effekte gegeneinander abwägt; und zum anderen, dass er sich selbst nicht als der Weisheit letzter Schuss versteht. Der politische Aktivismus muss Teil eines komplexeren Weltverständnisses bleiben. Und dazu gehören ganz wesentlich Kunst und Philosophie.




Helmut Draxler war von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstverein München. Als Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker publiziert er regelmäßig zu Theorie und Praxis der Gegenwartskunst. Von 2014 bis 2023 war er Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst, Wien. Zuletzt erschien 2021 von ihm beim Brill | Fink Verlag Die Wahrheit der Niederländischen Malerei. Eine Archäologie der Gegenwartskunst. Beim tentare Verlag erscheint diesen November sein neues Buch Was tun? Was lassen? Politik als symbolische Form.Jonas von Lenthe ist seit 2022 Archivar am Kunstverein München.


Lektorat: Gloria Hasnay, Lea Vajda



[1] www.philosophie.uni-ak.ac.at/dialektik-antidialektik-21-23-3-2024-tagung/
[2] www.wikipedia.org/wiki/K-Gruppe
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wohlfahrtsausschuss_(1990er)

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Halbgares aus dem nördlichen Burgenland

Auch mal so‘n Beitrag schreiben.

Sommer geht zu Ende. Fühlt sich ein bisschen wie Coming-of-Age-Drama an, wie in so‘nem amerikanischen Skateboard-Movie, wo der Protagonist am Ende feststellt, dass es auch noch was anderes im Leben gibt, als mit seinen Kumpels rumzugammeln, so etwas wie Kakteen fotografieren oder Ornithologie zum Beispiel. So als wär da innerlich was passiert, das irgendwie wichtig, aber nicht unbedingt gut ist. Bisschen peinlich auch, so wie ungleichmäßiger Bartwuchs oder ohne Kohle schick ausgehen.

L. war zwei Wochen in Tirol, da war ich bisschen allein. Hatte auch grad nix zu tun. Bin viel rumgesessen und hab manchmal auch nachgedacht, aber ohne so‘n konkreten Anlass. Also einfach nur, was mir so in den Kopf geschossen ist. Hat aber alles keine Anwendung gehabt. Also alles wieder vergessen.

Bisschen unheimlich: das Gefühl, meinen eigenen Alltag nicht ordnen zu können, obwohl nix zu tun. Im Zweifelsfall in den Baumarkt. Den, der 18km und zwei Ortschaften weit entfernt ist. Werkzeug anschauen, bisschen stöbern. Vielleicht sind die LEDs im Discounter billiger als hier. Vielleicht fahre ich später nochmal rüber. Hab eine Feuerschale im Baumarkt gekauft. Fühlt sich gut an. Steht bis heute unbenutzt im Hof.

Jedenfalls geht‘s grad mit dem Malen gut. Go-To-Tätigkeit No. 2 nach Baumarkt, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll und keine Verpflichtungen hab. Gibt so ein Gefühl von Geordnetsein. Ist unterschätzt, manchmal. Fühlt sich auch wieder besser an. Jetzt, nach so ein paar Jahren irgendwie den Eindruck, dass da was weitergeht. Ohne Manie und Fadesse. So: hier ist jetzt mein Eck und da mach ich mal.

Außerdem im Sommer:

Auf den meisten Veranstaltungen irgendwen auf einarmiger Umarmungsbasis gekannt (BussiBussi der Bürgerkinder). Ganz lustiges Umfeld. Bin altersmäßig zwischen den 20-jährigen Hamlets, die irgendwelche feschen Sätze à la bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin am Bier vorbeisäuseln und den 30-jährigen, die schon ein bisschen langweilig sind, aber nicht spießig sein wollen und einen auf Sid Vicious mit Nivea machen. Alles super. Am liebsten sind mir aber meistens die Auspuff-Leute, die einem erstmal ordentlich ins Gesicht rülpsen und sich dann den ganzen Abend entschuldigen. Machen sich immer gut auf einer Party.

Bin gespannt auf den neuen Jahrgang in der Klasse. Ist bestimmt ein netter Haufen.

Merke, dass ich schon länger nicht mehr in Wien wohne. Wenn ich in die Stadt reinfahre, denke ich neuerdings: Wien ist aber eine schöne Stadt. Habe ich in 25 Jahren nie gedacht. Ich glaube, kein Wiener denkt sich jemals: Wien ist aber eine schöne Stadt. Da gibt‘s Wichtigeres.

PS.

Gestern beim Knoblauchzehenstecken im Garten eine Eidechse gesehen, die L. vor den Katzen (ich weiß nicht mehr, ob Kater Toni oder Katze Mala) gerettet hatte. Beim Angriff durch Katze den Schwanz abgeworfen, der ist aber wieder am Nachwachsen. Echse und ich sind so eine Stunde nebeneinander im Garten gesessen. Hat sich gut angefühlt. Ich nenne eigentlich alle Tiere, die ich nur temporär kenne, unabhängig ihres Geschlechts Bruno, Giacomo, Ignaz, Specki, Freundchen oder kleiner Mann, so wie in: na, kleiner Mann, wie geht‘s? Ausnahme war ein Spatz namens Tschirpo, den L. vor einigen Monaten wiedermal vor den Katzen rettete. Wir hatten Tschirpo nach dem Angriff liebevoll aufgepäppelt und wieder flugtüchtig gemacht. Aber Toni hat ihn gleich nach dem Start wieder aus der Luft gefangen und erledigt.

Katzen sind coole Killer.

Kater Toni stört mich beim Herumsitzen.

Eidechse Bruno ist ungeachtet seines Namens vielleicht ein Weibchen.

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KOMPLIZIERTES LESEN

… neues Seminar im Angebot:

0,5 Studienjahre = 1 Sommer = 1 Buch. selbstständige Anmeldung per campus-online .

Kompliziertes lesen,
kompliziertes Lesen

Im Seminar Sommersemester 24 lesen wir gemeinsam ein Buch: “Die lebende Münze” von Pierre Klossowski, frz 1970, dt.1982.
Von Foucault als “das größte Werk unserer Epoche” angepriesener, komplexer philosophischer Essay. Das Geld, die Währung, die Münze als totales Äquivalenzmittel, wird mit Bezug auf Marquis de Sade als menschliche Lebensform fantasiert. Ein Fetisch mit Eigenleben, ein Dämon, der durch umfassendes Begehren zugleich herrscht und beherrscht wird: Herr und Knecht.
Die Lektüre kann schnell vermiest werden durch ein interpretatorisches Zustellen, wenn man sich auf die einschlägigen Begriffe der Produktion, des Begehrens, des Tausches, etc. versteift. Im close reading des kleinen Buchs (ca.80 Seiten) über das gesamte Semester hinweg wird eine konzentrierte Auseinandersetzung mit Inhalt und vor allem Form des Textes verfolgt. Dazu sollte Bereitschaft mitgebracht werden: sich auf das Komplizierte, das Unverständliche einzulassen.

  • We will read the text in German translation, discuss and debate it in German. If necessary, the French edition will be consulted.
  • For an English-language reading group, please refer to Literature and Language Arts 1 in the winter semester.
    If you are interested in the extra-curricular reading group (English, German, etc., starting this summer semester), please send an e-mail with the subject ExCu to: s.janitzky@akbild.ac.at

“Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts sind im Namen des Gefühlslebens Anathemata gegen die industrielle Zivilisation geschleudert worden. Den Produktionsmitteln der Industrie eine schädliche Wirkung auf die Gefühle zuzusprechen, bedeutet, daß man sie – noch in der Denunziation ihres demoralisierenden Einflußes – als eine wichtige moralische Macht anerkennt. Wie kommt sie zu dieser Macht? Nur aufgrund der Tatsache, daß der Akt der Objekt-Fabrikation selbst seinen eigenen Endzweck in Frage stellt. Wodurch unterscheidet sich dann der Gebrauch geräteartiger Objekte vom Gebrauch derjenigen, welche die Kunst herstellt und die für das Auskommen unnütz sind? Keiner denkt daran, ein Gerät mit einem Simulakrum zu verwechseln. Es sei denn, daß ein Objekt nur als Simulakrum einen notwendigen Gebrauch darstellt.”
“Die lebende Münze” Pierre Klossowski, S.1

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