Von Jan Brachmann
Der Komponist Wolfgang Rihm ist gestorben. Mit ihm verlieren wir einen der ausdrucksstärksten Musiker und sprachmächtigsten Denker unserer Zeit.
Jäh wie ein Schrei, ein Blutsturz, ein Kuss brach die Musik von Wolfgang Rihm um 1970 in unsere Welt. Mit einer Vehemenz, die damals verstörte, sagte der noch nicht einmal Zwanzigjährige in seiner Kunst „Ich“. Als auf dem Höhepunkt der seriellen Musik das Subjekt fast völlig durch das System erstickt worden war, als Tonhöhen, Tondauern, Artikulationen und Klangfarben reihentechnischen Regeln zu gehorchen hatten, setzte ein junger Mann auf Körper, Ausdruck, Wucht wie Innigkeit gleichermaßen.
Und mit der Verstörung – Wie kann der das wagen?! – ging sofort die Bewunderung einher: Wie kommt er dazu, so frei und zugleich so souverän zu sein, so unbefangen und zugleich so kenntnisreich, so kraftvoll und dennoch von keinem Ressentiment, keiner Ideologie angestachelt?
Mit den Erfahrungen komponieren, nicht gegen sie
Schon als Elfjähriger hatte Wolfgang Michael Rihm, am 13. März 1952 in Karlsruhe geboren, zu komponieren begonnen. Seine Eltern standen seiner besonderen Begabung, wie er selbst es formulierte, „unaggressiv“ gegenüber. Er durfte ungehindert tun, wonach es ihn drängte, sich nehmen, wonach seine Seele hungerte und was sein Können voranbrachte. Noch sein zweites Streichquartett schrieb der Achtzehnjährige auf dem Esstisch der Eltern. Offenbar fand er in Eugen Werner Velte, dessen Karlsruher Professur für Komposition er 1985 übernehmen sollte, einen Lehrer, der es verstand, der Neugier durch Handwerk Richtung und Nahrung zu geben.
Rihm studierte bei Klaus Huber und Humphrey Searle, aber auch noch bei Karlheinz Stockhausen, einem der exponierten Machtmänner der Neuen Musik jener Zeit. Und er ging, obwohl er künstlerisch so anders war, nicht auf offene Konfrontation zu ihnen. Rihm war kein Polemiker, keiner, der ästhetische Vergeltungsschläge führte. Eine seiner Maximen lautete, man müsse mit den gemachten Erfahrungen komponieren, nicht gegen sie.
Doch die Attacken gegen Rihm folgten schnell. Sein drittes Streichquartett „Im Innersten“ wurde 1977 in Royan uraufgeführt. Aus schartenschlagender Gewalt stürzt die Musik unvermutet in eine verletzliche, tonal gefasste Innigkeit, die Erinnerungen an die Musik um 1900 nachzittern lässt. „Ich musste mir anhören, das sei ‚faschistische Musik’. Wahnsinn!“, erzählte Rihm der F.A.Z. im Jahr 2022. „Das war natürlich als Einschüchterung beabsichtigt, hat aber nicht gewirkt. Man wollte mich damit sofort mundtot machen. Wenn man als junger deutscher Komponist im Ausland auftrat und nicht eine in den entsprechenden Bereichen für gut befundene Ästhetik artikulierte, wurde man sofort mit dem Nazivergleich konfrontiert. Ich habe es in England erlebt, dass die BBC im Radio einen Bericht über die Aufführung meines Stücks ‚Dis-Kontur’ sendete. In dem Stück gibt es bestimmte Partien mit relativ harscher Akzent-Rhythmik. Sie wurden im Bericht überlagert vom Geräusch marschierender Stiefeltritte. Nahegelegt werden sollte damit: ‚Jetzt marschieren die Deutschen wieder.’“
Rihm, dessen beeindruckende Körpergröße ihm in Auseinandersetzungen eine natürliche Autorität verlieh, besaß neben seiner musikalischen Begabung auch eine sprachliche Artikulationsfähigkeit, die durch ein Musikwissenschaftsstudium bei Hans Heinrich Eggebrecht mit Fachwissen geschult sowie durch lebendigen Umgang mit Dichtung und Philosophie belebt worden war. Sie ließ viele Kollegen vor Neid erblassen.
Als Sechsundzwanzigjähriger schrieb er in seinem Essay „Ins eigene Fleisch…“ gegen die Verbotsdogmen und den ästhetischen Säuberungsterror im Sektenbetrieb der Neuen Musik an: „Um uns herum werden Attrappenprobleme aufgestellt. Profilneurotische Feldzüge werden geführt gegen Moden, Vergreisung, Tonalität, Nichttonalität, Verschleiß, das ungenaue Unisono, die Gefahr der Gruppenbildung … – alles Scheingefechte, Ersatzgefühle Gängelkram! Nur ein ungebundener Geist, ein unbändiger, ist Komponist“.
Die Siebziger- und teils auch Achtzigerjahre waren bei Rihm geprägt durch die Suche nach einer neuen Unmittelbarkeit. Seine Kammeroper „Jakob Lenz“ stellte 1977 das Eintauchen in den Zustand der Zerrissenheit einer frühromantischen Dichterseele an die Stelle streng linearer Erzählung. In späteren Opern wie „Die Eroberung von Mexiko“ oder „Dionysos“ ist das Erzählen völlig aufgegeben zugunsten eines Kreuz- und Querschießens von Bezügen zwischen bedeutungsgeladenem Material. Vor allem, das hört man auch in seinem Klaviertrio „Fremde Szene“, einer Hommage an Robert Schumann, wollte Rihm seine Hörer packen, sie nicht kaltlassen, von Gewalt und Zärtlichkeit erzählen, von Verführung und Irresein, von Verletzungen, die aus zu großer Nähe entstehen können. „Ich will berühren und berührt werden“, war ein weiterer, bezeichnender Rihm-Satz.
Doch bald dachte Rihm darüber nach, dass jedes Subjekt sich durch Sprache, Geschichte und Kultur immer schon vermittelt äußere. Noch im Jahr 2023 wies er im Gespräch mit dem Philosophen Peter Trawny den zum Kitsch verkommenen Begriff der „Stille“, gar der „Ur-Stille“, zurück, weil Musik und Stille „zu sehr ein Kulturphänomen“ und in Kontexte der Erinnerung wie der Erwartung eingebunden seien.
So findet sich bei Rihm die rituelle Gewaltsamkeit seines Balletts „Tutuguri“ neben der historisch reflektierten Passion „Deus passus“ wie das Rohe neben dem Gekochten. Das Buch „Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?“ von George Steiner wurde mit seinem Erscheinen ein Leitfaden für Rihm, wie er 2004 in einem Podiumsgespräch mit Steiner in Berlin bekannte. Was Rihm wie Steiner gleichermaßen faszinierten, waren jene Schichten im Menschen, die auf dessen vorsprachliche Existenz sowie dessen tierische Vorgeschichte verwiesen. Auch das Wort, so Rihm damals, trage Schichten in sich, die älter seien als es selbst, Schichten, die auf die vormenschliche Zeit des Lebens verwiesen. Diese Schichten erkunde die Musik und bringe sie in Verlaufsformen.
Die Spannung von unmittelbarer, realer Gegenwart des musikalischen Sprechens und dessen unentrinnbarem Gewordensein durch Kultur wie Geschichte durchzieht auch Rihms Musik.
Sein Tod reißt einen Krater in unsere Welt
Zugleich faszinierten ihn die „Verlaufsformen“ mehr und mehr: das Momenthafte des Werks und die Überlegungen, dessen Fest-Stellung in der definitiven Gestalt zu entkommen. Der Orchesterzyklus „Jagden und Formen“, der als „work in progress“ zwischen 1995 und 2008 wuchs und sich wandelte, ist so ein klingender Essay über Zeit und Gestalt. „Vers une symphonie fleuve“ dachte zuvor schon über musikalischen Gestaltwandel im Fluss, über mähliche Zustandsveränderungen und die Eingliederung des Impulsiven in langfristige Verlaufskurven nach.
Rihm hatte ein unglaubliches Hör-Repertoire. Mozarts Klavierkonzerte waren ihm ein Evangelium; an Puccini fiel ihm auf, dass er manches vorweggenommen hatte, was Mahler gutgeschrieben wurde; an Rachmaninow bewunderte er die aufrichtige Empfindung bei gleichzeitiger Fähigkeit, aus kleinen Molekülen riesige Formen bauen zu können. Dass Rihm ein besonders inniges Verhältnis zur Musik von Johannes Brahms hegte, war kein Geheimnis. Immer wieder machte er auf Stellen aufmerksam – in der Instrumentation wie der Harmonik –, wo Brahms das Ungeheuerliche ganz leise ausspricht. Die stillen Stücke „Das Lesen der Schrift“, am Rande der Hörbarkeit, sind Rihms Interpolationen zu Brahms’ „Deutschem Requiem“; sein Liederzyklus „Das Rot“ nach Karoline von Günderrode sucht Resonanzen zu Brahms’ „Vier ernsten Gesängen“.
Ein Glück, das zur Trauer animiert
Fortschritt? Vielleicht bei Frisuren von Pop-Stars
„Ich bin nicht der Polizist meiner Musik“
Das Lied hat Rihm durch sein ganzes Leben getragen, auch durch die schwere Krebserkrankung der letzten zwei Jahrzehnte. Noch 2022 waren die „Terzinen an den Tod“ nach Albert Vigoleis Thelen und danach noch der Zyklus „Überwundene Zeit“ nach Uwe Grüning entstanden. In der Nacht zum 27. Juli ist Wolfgang Rihm im Alter von 72 Jahren in Ettlingen gestorben. Sein Tod reißt einen Krater in unsere Welt. Die Musik verliert mit ihm an Sprachmacht, die Kunst einen Fürsprecher.
Quelle: F.A.Z.
2 Antworten auf „Der Berührbare. Zum Tod von Wolfgang Rihm.“
Den Klang von innen nach außen lassen
Mit Wolfgang Rihm ist einer der größten Komponisten der Gegenwart gestorben. Die Fülle und Vielfalt seines musikalischen Schaffens sind geradezu beispiellos. Ein Nachruf
Von Volker Hagedorn (ZEIT 29. Juli 2024)
Später, viel später macht man sich ja gern lustig über die Kritiker, die es nicht gleich verstanden haben. „Fast eine halbe Stunde lang dröhnende Wirbel auf vier Pauken, fettes Blechbläser-Geschrei, tiefes Schnarchen von Kontrafagotten und sich aufplusternde Munterkeit. Ein Fäkalienstück. Da hilft nur anschließend ein Schnaps.“ So heftig wurde er selten, der ZEIT-Kritiker Heinz Joseph Herbort, wie 1976, als er in Donaueschingen Sub-Kontur gehört hatte, das Orchesterstück eines damals 24-Jährigen, Wolfgang Rihm. Aber Herborts Zeilen spiegeln eben auch die Heftigkeit dieser Musik, die da hineingekracht war in eine Szene der Ausgewogenheit, der verhaltenen Klänge. Auch die Musiker fanden Sub-Kontur zuerst schrecklich. „Mein Stück“, erinnert sich Rihm 20 Jahre später, „wird erst einmal vom Blatt durchgespielt. Schon im letzten Klang bricht Wutlärm aus, Noten fliegen durch die Luft …“
Aber dann näherte man sich einander gegenseitig in der Probe. Wolfgang Rihm änderte einiges, die Musiker begannen, ihn zu verstehen, und dann, so schreibt der Komponist, „klang es wieder so hervorragend, daß die Kritiker jetzt weinen vor Wut und sich betrinken müssen“. Die Schelte in der ZEIT steckte er weg. „Ich konnte dem immer nur noch mehr entgegensetzen“, sagte er im Gespräch vor zwölf Jahren und funkelte dabei so kämpferisch heiter wie ein Junge, der es allen zeigen wird. Dabei hatte er es da längst allen gezeigt und blickte mit 60 Jahren auf rund 350 gedruckte (und aufgeführte!) Werke zurück, denen dann noch mal 40 folgten. Mit 53 Jahren war Rihm schon zum bis dahin jüngsten Träger des Siemens-Musikpreises geworden, dem Nobelpreis der Musik.
Damit war nicht unbedingt zu rechnen, als am 13. März 1952 in Karlsruhe das erste Kind einer gelernten Modezeichnerin und eines Angestellten zur Welt kam. Man ging sonntags in die Kunsthalle, und die Mutter hatte einmal Klavierspielen gelernt. Entscheidend war, dass die Eltern dem Sohn seine Wünsche erfüllten: Er bekam eine Blockflöte, dann ein Klavier, das den häuslichen Etat sprengte, er wurde gefördert. Den 12-jährigen Chorsänger Wolfgang beeindruckte zutiefst das Requiem von Hector Berlioz, der 14-jährige Gymnasiast schrieb ein Streichquartett. Was der 18-Jährige dann als Streichquartett Nr. 1 vorlegte, wirkt noch heute wie ein autonomes Wunderwerk. Zu der Zeit studierte Wolfgang Rihm schon Komposition. Abitur machte er, zweimal sitzen geblieben und schlecht in Mathe, erst zwei Jahre später, zeitgleich mit dem Staatsexamen in Komposition. Das alles in Karlsruhe, der Stadt, die immer seine Basis blieb.
Diese Stadt, in deren Nachbarstadt Ettlingen Wolfgang Rihm am vorigen Samstag mit 72 Jahren einer langwierigen Erkrankung erlegen ist, ist die heimliche kleine Hauptstadt eines ganzen Kontinents. „Kontinent Rihm“, so nannten die Salzburger Festspiele einen Schwerpunkt, den sie dem Komponisten im Jahr 2010 widmeten, und der Titel war keine Übertreibung. Tatsächlich umfasst Rihms Œuvre alle Klimazonen und Vegetationen. Es gibt Gipfelketten wie die Klangattacken der Hamletmaschine von 1987, es gibt die Wüste, in die ein Klavier erratische Blöcke klotzt, die Dschungel an den Ufern von Vers une Symphonie Fleuve und die labyrinthische Geografie der dreizehn Streichquartette. Es gibt eine solche Diversität von Formen und Mitteln (nur Elektronik kommt nicht vor), dass man sich fragt, warum und woran denn eigentlich dieser Komponist immer so gut zu erkennen ist.
Wichtig ist dabei die Unmittelbarkeit seiner Musik. Egal, ob völlig atonale Skulpturen am Klavier gemeißelt werden oder ob der Pfarrer in der Kammeroper Jakob Lenzdie Stadionhymne So ein Tag, so wunderschön wie heute mit Worten von Georg Büchner singt, ob wir Materialexzesse wie im erwähnten Sub-Kontur erleben (die noch nach fast einem halben Jahrhundert erfrischender und drastischer klingen als vieles, was Jüngere jetzt schreiben) oder das Cellokonzert von 2006, in dem aus verbrauchten Vokabeln des 19. Jahrhunderts sozusagen das allerletzte und allerneueste Cellokonzert der Romantik wird – man kann das voraussetzungslos hören. Rihms Musik muss nicht „zugänglich“ gemacht werden, sie kommt unmittelbar auf einen zu. Da ist kein Ego, das sie festhält, auch nicht das Über-Ich einer Dogmatik. Wohl aber ein sehr offener Geist, in dem alles danach drängt, sich in Musik zu verwandeln. So sehr, dass er nie im Etabliertsein versank und man immer gespannt sein konnte, was als Nächstes kommen würde.
„Ich habe eine Utopie“, sagte Rihm als etwa 30-Jähriger, „dass ich, während ich komponiere, der Klang fast selber bin.“ Eigentlich denke sich die Musik selbst weiter, wenn ihre Erfindung erst einmal begonnen habe, und idealerweise müsse das „ohne Formgeplänkel und Vorzeigeverlauf“ nach außen dringen. In dem Gedanken zeigt sich der Komponist als eine Art Medium, aber zugleich gibt es kaum einen, der so reflektiert und kundig mit der Geschichte seines Metiers umgegangen ist. In seinem wohl meistgespielten Werk, der Kammeroper Jakob Lenz von 1979, werden vorhandene Musiksprachen unablässig zu Werkstoffen – aber nicht, um Bildung vorzuführen, eher schon als Befreiung von den Dogmen der Avantgarde, der Durakkorde da immer noch verdächtig waren.
Auch wenn Rihm eine Zeit lang bei Karlheinz Stockhausen studierte, knüpfte er vor allem an die Frühzeit der Moderne an, jene Jahre, als die kreativen Eruptionen in der Musik noch nicht zu Schulen und Systemen geworden waren. „Die Zeit um 1900“, schrieb er mir vor zwei Jahren, sei für ihn „die Batterie für fast alles, was folgte.“ Es war einer jener Briefe, von denen man sich fragt, woher er auch dafür noch die Zeit nahm, neben dem Komponieren und neben dem Schreiben über die Musik, in dem sich ein enormes literarisches Vermögen zeigte – vergleichbar allenfalls mit dem des von ihm so verehrten Hector Berlioz. Dazu kommt noch, dass Rihm als Kompositionslehrer junge Hochbegabungen wie Rebecca Saunders auf ihrem Weg begleitete und sich öffentlich für die Kultur einsetzte. Unvergessen, wie er 1996 – nach knapp abgewendeter Halbierung der staatlichen Zuschüsse an die Donaueschinger Musiktage – erklärte: „Nur Scheiße darf noch teuer sein.“ Das war auch deswegen wirkungsvoll, weil Wolfgang Rihm zwar sehr deutlich werden konnte, aber nie unversöhnlich war.
Wer seinen Kopf aus der Menge ragen sah – das außergewöhnlich große Haupt eines Hünen –, sah ein freundliches Gesicht, wer mit Rihm sprach, stieß auf Neugier und hatte zugleich das Gefühl, sich selbst schon auf dem „Kontinent Rihm“ zu befinden. Schwerer als bei jedem anderen sind hier Mensch und Werk zu trennen. Das unablässige Neuansetzen im Komponieren, das Suchen nach immer neuen Sprachen, Zeichen, Farben ist ebenso ein Teil dieses Komponistenlebens wie die Kontinuität, mit der Rihm über viele Jahre hinweg sein Orchesterstück Vers une Symphonie Fleuve immer neu schrieb, oder mit der er in seinen Streichquartetten über die Jahrzehnte hinweg zu erkunden schien, wo er sich als Komponist gerade befand, so umfassend wie vor ihm nur Haydn, Beethoven und Schostakowitsch. Er war so sehr Musik, dass die Welt sich jetzt, bei allem Getöse, still anfühlt. Man kann sich vorstellen, Wolfgang Rihm mache einfach trotzdem weiter und sitze jetzt an seinem 14. Streichquartett.
Hier noch ein Interview, das Jan Brachmann vor zwei Jahren mit Wolfgang Rihm geführt hat.
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Wolfgang Rihm wird siebzig: Ein Glück, das zur Trauer animiert
Von Jan Brachmann
Hört man den Körper des Komponisten in seinem Werk? Wo ist das Werk, wenn es nicht erklingt? Verbietet der Krieg das Nachdenken über die Kunst? Ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm.
Wolfgang Rihm ist seit einem halben Jahrhundert eine eminente Figur. Mit Wucht und Souveränität behauptete er sich schon als junger Mann gegen eine Neue Musik, die vor lauter Innovationsdruck immer unfreier wurde, und suchte doch nicht die Ausflucht in Nostalgie, sondern originäre Gegenwart. Immer wollte er mit den gemachten Erfahrungen, nicht gegen sie komponieren. Heute überragt sein weltweit gefeiertes Werk die Wegwerfproduktion von politischen wie technologischen Trendsuchern. Am 13. März wird Rihm siebzig Jahre alt. Wir trafen uns in seiner Karlsruher Wohnung zum Gespräch.
Jan Brachmann
„Was kommt, kommt. Gestrampel jedweder Art arbeitet sich selbst ab”, schrieben Sie einmal. Das erinnert mich, in der Betonung des zwanglos Organischen, an die Idee der „Mikrotektonik” beim russisch-französischen Komponisten Georges Conus. Er glaubte, dass die Zeitproportionen in musikalischen Werken jenen biologischer Organismen folgen.
Ich bin absolut davon überzeugt. Ich glaube sogar, stilistische Eigenheiten und Krankheiten schlagen sich strukturell in bestimmten Proportionen der Werke nieder.
Das würde bedeuten, dass die Physis des Komponisten Einfluss auf die Werkgestalt habe – und zwar ohne dass er selbst sich darüber genau Rechenschaft ablegen könnte.
Und ohne, dass es als biographische Aussage von weiterem Wert wäre. Es ist nur für die Detailanalyse – für die Relation von Psyche, Physis und die Zwischenform ‚Werk’ – von Belang, um da eine operable Größe zu finden. Ich rede jetzt nur von Dingen, die ich selbst erlebt habe, die ich durch mich selbst kenne, etwa von bestimmten Formen des abundanten Wachstums. An meiner Krebserkrankung, einem Sarkom im Oberschenkel, laboriere ich nun schon über zwanzig Jahre. Ich verbinde diese Krankheit durchaus mit einer bestimmten Produktionshaltung, einem proliferierenden Wachstum von kleinsten Einheiten, die – wenn’s gut geht – eine innere Stimmigkeit erzeugen, die aber – wenn’s problematisch wird – den Grund legen können für Prozesse, die den gesamten Organismus schädigen.
Das klingt nach Selbstkorrektur. In Ihrem frühen Aufsatz über das „Jungerkomponistsein” waren Sie überzeugt, dass Kunst alterslos sei und die Kunstproduktion auch.
Das waren sicher sehr relative Aussagen damals. Aber dieses alterslose Produzieren, wo ich den Anschluss an einen Lebensstrom spüre, das ist etwas, was ich momentan nicht kann. Das ist mir vielleicht auch durch Corona aus der Hand geschlagen worden. Mir fehlt der Austausch über die Arbeit. Bislang war immer klar: Ich mache etwas – und dann wird sich dazu verhalten. Entweder kriege ich was aufs Dach, oder ich werde emporgehoben. Aber irgendetwas geschieht. Und jetzt – passiert gar nichts. Die ganze Welt hat sich weggeduckt.
Porträtfilm über Wolfgang Rihm Video: Hochschule für Musik Karlsruhe/YouTube
Sie haben als ganz junger Mensch bereits gesagt: Das bin ich; das will ich ausdrücken, egal, welche Forderungen der Betrieb stellt. Sie haben gegen eine Dominanz serieller Verfahren wieder die Subjektivität im Komponieren stark gemacht. Woher kommt diese Widerstandskraft gegen Verunsicherung durch herrschende Machtstrukturen?
Es gab diese Verunsicherung auch bei mir. Immun war ich dagegen nicht. Ich habe aber daraus den Impuls entwickelt: Du musst dich dagegenstellen. Nicht programmatisch, von Anfang an, sondern situativ, wenn der Fall nötigen Widerstands eintritt. Es hat gewiss auch mit meiner Physis zu tun. Ich bin – mit früher ein Meter dreiundneunzig, inzwischen etwas geschrumpelt – halt nicht unterzubuttern. Meine Physis hat mir geholfen. Aber trotzdem: Man muss den Dialog auch aushalten, egal, wo man hinkommt. Was soll ich denn auch anderes tun, als mich akzeptieren? Dieses Verweisen auf Subjektivität konnte ich nicht als Leistung empfinden. Ich hab mir doch nicht ständig auf die Schulter geklopft und gesagt: Ah, wie subjektiv bin ich! Ich konnte doch nicht so tun, als käme ich aus einem völlig keimfreien Gebiet und sei mit höherem Wissen ausgestattet, vielleicht von einem fremden Stern mit Antennen am Kopf. So, wie ich es gemacht habe, habe ich es gemacht. Und dazu stehe ich noch heute. Ich habe auch nie den Drang verspürt, irgendwelche Kodifizierungen von mir zu geben. „Die Maßgaben der Kunst” von Peter Hacks, ein schönes Buch, habe ich zwar gelesen, aber nie gedacht, ich müsse selber maßgeblich wirksam sein. Mein Gedanke war immer: Seid so, wie ihr seid. Das gibt euch selbst das Maß.
Ein Maß, das aus dem Machen selbst, aus dem Tätigsein erwächst?
Ganz genau. Es ist ein Ins-Werk-Kommen, die Dinge kennenlernen. Kein Davor-Sitzen und Sich-Anhören, „was man machen muss”. Ein Ausprobieren von Gegenpositionen. Und das ist genau mein Problem im Moment: Ich kann nicht tätig sein, oder ich bin’s zu wenig. Und das empfinde ich als Krankheitssymptom: Der Tätigkeit entzogen zu sein, ist ein Fehl. Das letzte, was ich habe schreiben können, ist ein Liederzyklus nach Gedichten von Albert Vigoleis Thelen, die „Terzinen an den Tod”, für Gesang und Klavier. Ich hab das für Georg Nigl geschrieben; das wird jetzt gerade bei der musica viva in München uraufgeführt. Aber seitdem hab’ ich nichts mehr hingekriegt.
Ist es eine neue Erfahrung, dass Sie über mehrere Monate hinweg nichts schreiben konnten?
Absolut. Das hat sicher auch psychophysische Gründe. Da spielt einiges eine Rolle, was sich gar nicht im Beredbaren aufhält.
Beunruhigt Sie das? Oder lassen Sie das über sich ergehen?
Beides. Es beunruhigt mich, aber ich merke auch: Ich kann’s ertragen. Was mir da gerade widerfährt, ist nicht etwas grundsätzlich Vernichtendes. Ich sehe, dass ich da durchkann und durchmuss. Aber es tut weh.
Ein Schmerz, der sicher noch größer wird durch den Krieg in der Ukraine. Lässt diese Katastrophe es überhaupt zu, momentan über Kunst nachzudenken?
Leider doch, denn Kunst spielt nie in geschichtsfreien Räumen. Sie ist aber dennoch stets mehr als eine Art Resonanzboden der Ereignisse. Das Geschehen in der Ukraine konfrontiert uns mit einem abscheulichen Angriffskrieg, in dem Machtwillen und Unterdrückung ein bis dahin kaum vorstellbares Szenario der Erpressung generieren. Wir sollten allerdings vorsichtig sein und daraus keine moralische Höherwertigkeit unserer demokratie- und bündnisgeschützten Position ableiten: etwa, indem wir Bekenntnisse abfordern von Menschen, deren geldwerte Präsenz uns bis dato sehr lieb war, wenn es darum ging, in dem Kultur-Abschöpfungs-Zirkus, den wir „Klassik” nennen, „wertschöpferisch” mitzuwirken und Erträge zu sichern. Aber all solche verunsichernden Überlegungen werden überformt von diesem bedrohlichen Einbrechen der Zeit, nein, des Todes in das Spiel. Und das in nächster Nähe.
Nun sind freilich Ihre „Terzinen an den Tod” viel früher entstanden. Was hat Sie dabei so angezogen?
Die eigentümlichen Texte. Ich kannte sie gar nicht. Sie stammen aus dem Band „Im Gläs der Worte”. Hier ist das Skizzenbuch dazu. Die Lieder sind im Sommer 2021 fertig geworden. Seitdem habe ich nichts mehr schreiben können. Die Daten sind vermerkt: April bis Juli. „Das Gebet der Hexe von Endor” ist davor entstanden. Und „Sostenuto”, ein Orchesterstück, habe ich abgeschlossen am 4. Januar 2020. Das ist nun über zwei Jahre her!
Wolfgang Rihm: Das Rot. Sechs Gedichte der Karoline von Günderode. Christoph Prégardien (Tenor), Ulrich Eisenlohr (Klavier)
Michelangelo beschrieb die Trauer bei der Entscheidung, sich unter den vielen möglichen Gestalten, die ein Marmorblock enthalte, für die eine zu entscheiden. Ist die Festlegung der definitiven Gestalt auch für Sie ein trauriger Moment?
Das ist bei der Musik nicht so tragisch. Denn in der Musik lassen sich noch Einfügungen während des Schreibprozesses machen, die beim Behauen eines Blocks nicht möglich wären. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Musik lässt auch Übermalungen zu, bei denen das Übermalte nicht verschwindet. Zudem werden durch die Arbeit Projekte möglich, an die man zuvor gar nicht gedacht hatte. Allein der Vorgang der Tätigkeit, des Fassens von Gedanken, des Formens eröffnet immer auch etwas. Er schließt nicht nur ab.
Die Erfahrung von Musik unterscheidet sich ja ganz stark danach, ob ich sie nur höre oder auch selbst mache. Viele taktile Lust- oder Qualmomente, auch Sinnebenen erfährt nur der Spieler, nicht der Hörer. Gibt es für sie als Komponisten auch solch einen Erfahrungsbereich, über den Sie nur sprechen, den Sie aber nicht teilen können? Ruft das Wiederhören zum Beispiel Erinnerungen wach, die mit dem Schreiben verknüpft sind?
Ja, man kann darüber reden, dass es jedes Mal etwas anderes ist; dass es Erfahrungen sind, die mit anderen kollidieren oder diese bestätigen, sogar verstärken. Als kürzlich in Heidelberg das Leonkoro-Quartett mein neuntes Quartett gespielt hat, schoss mir durch den Kopf: „Mein Gott, ich wusste gar nicht, dass das so gut ist”! Ich hatte das Gefühl einer besonderen Stringenz, einer inneren Kohärenz. Dass alles am Ort ist und alles stimmt. Das war mir vorher nicht klar. Ich dachte beim Komponieren, ich suche mit der Stange im Nebel nach etwas. Dass sich daraus wirklich ein Bogen ergibt, eine Schlüssigkeit entsteht – das zu hören war ein Glücksmoment für mich.
Eine kreative Leistung des Quartetts?
Natürlich ist alles in den Noten angelegt, aber es herauszufinden und darzustellen – das ist schon die Leistung der Musiker. Das Glücksgefühl, dass ich dabei hatte, war keine Bestätigung, wie gut ich bin. Ich weiß, dass ich auf die Musiker angewiesen bin. Aber wenn sie gut sind, dann bin ich es auch. Man kann den Notentext gewiss kontrollieren: auf saubere Tonhöhen, richtiges Tempo, genaue Dynamik. Aber das führt höchstens zu einer orthographischen Richtigkeit. Aber diese innere Stimmigkeit, die wirklich spürbar ist, die zeigt, dass durch die richtige Abfolge der Töne auch ein innerer Strom fließt, ein Stoff sich bewegt! Das sind die Glücksmomente gelungener Interpretation. Die erlebe ich allerdings nicht nur mit eigenen Werken, sondern auch bei klassischen Texten. Manchmal erreichen diese Momente die Grenze des Ausgeschöpftwerdens, und dann weiß man: So schnell wird sich das nicht wiederholen – und ist selbst erschöpft.
Eine schöne oder eine traurige Erfahrung?
Eine glückliche Erfahrung, die zur Trauer animiert.
Das heißt aber, dass auch für Sie Musik ihre Wirklichkeit erst im Moment des Erklingens hat.
Ich glaube ja. Ich lese zwar gern Partituren, aber da erfreue ich mich am Feinschliff der Technik, am Schnitt des Gefügt-Seins. Doch das sagt noch nichts. Das kann so gespielt werden, dass man von einem Gähnen ins andere fällt.
Wolfgang Rihm: Interpretation setzt die Trennung zwischen einem Text und seiner Gestalt des In-die-Zeit-Tretens voraus. Doch in der Musik lässt sich das schwer trennen.
Ja! Das lässt sich wirklich ganz schwer trennen. Wo wäre denn „die eigentliche Gestalt”, die nicht in die Zeit träte? Und kann überhaupt etwas in die Zeit treten, das nicht vorab durch „die eigentliche Gestalt” ermöglicht wäre? Es gibt dieses Referieren oder Ausbuchstabieren der „eigentlichen Gestalt”. Aber genau das ist es nicht, was diese Glücksmomente des Stroms und der Schlüssigkeit auslöst. Gleichwohl bleiben Interpretationen immer auf dem Wege. Sie sind kein Ankommen.
Hat eigentlich die deutsche Wiedervereinigung irgendeinen Einfluss auf Ihre Arbeit gehabt?
Schwierige Frage. Wenn ich ehrlich bin, nicht. Das verstört mich jetzt selbst. Ich bin noch nie danach gefragt worden. Allenfalls atmosphärisch hat es mich berührt. Es war für mich ein inneres Aufatmen, nachdem die Zwangssituation der deutschen Teilung endlich vorüber war. Dass andere Zwangssituationen daraus neu erwuchsen, ist mir klar. Das habe ich dann auch bemerkt. Doch die erste innere Reaktion war: „Ach, Gott sei Dank!”. Autoren aus der ehemaligen DDR waren mir ohnehin vorher schon wichtig. Mit Heiner Müller hatte ich mich bereits vor dem Mauerfall beschäftigt. Peter Huchel hatte ich nach seiner Emigration in seiner Staufener Zeit getroffen; Erich Arendt war mir in Rom begegnet, in der Villa Massimo, wo ich ihm noch mein Transistorradio geschenkt hatte. Von den Komponisten aus der früheren DDR ist kaum jemand auf mich zugekommen. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich von ihnen ein wenig gemieden wurde. Mit Georg Katzer und Friedrich Goldmann hatte ich immer guten Kontakt, wenn ich sie traf. Die übrigen schauten mich eher misstrauisch an. Nur der Steffen Schleiermacher ist direkt auf mich zugegangen.
Heute ist allerorten, in Ausstellungen und Inszenierungen, ein immenser Aktualisierungsdruck zu beobachten. Stets sollen die Tradition und der Kanon „auf ihre Gültigkeit” befragt werden, wobei mich dieses „Befragen” der Werke oft an Folter von verdächtigen Kriminellen erinnert.
Das ist streng gesagt, aber richtig. Wir erleben es heute überall, dass Kunstwerke nicht mehr den Kriterien entsprechen, die aktuell an sie angelegt werden. Und dann müssen Warnhinweise aufgeklebt werden. Zur Zeit ist das sehr beliebt.
Sie haben selbst unterschieden zwischen Anliegen und Auflagen in der Musik. Momentan werden die Auflagen erhöht. Sie lauten „Zugänglichkeit” oder „Diversität”.
Ja, so ist es. Alles sehr modische Felder. Trotzdem weigert sich etwas in mir, deshalb in Resignation zu verfallen. Ich sehe das genauso, bemerke aber zugleich das unfreiwillig Komische dieses ganzen Betriebes dabei. Alles läuft aufgeregt umher, um bloß nicht in den Verdacht zu kommen, nicht umherzulaufen. Denn das wäre das Schlimmste. Ich schaue gern mal die „Kulturzeit” auf 3sat. Da wurde kürzlich von einer Aufführung des „Ringes des Nibelungen” in Zürich berichtet, nur für Schauspiel, und euphorisch behauptet, dass es nun endlich an der Zeit sei, sich von Richard Wagner zu befreien. Und was hörte man? Ganz harmlose Pop-Musik. Na, toll! Das ist so trostlos, wie es zugleich hilflos ist.
Aber es ist wieder mal für fünf Minuten Relevanz behauptet worden!
Relevanz wird immer auf den Lippen geführt, wenn substanziell wenig los ist. Wann ist denn ein Kunstwerk relevant? Doch nicht wenn es Kriterien genügt, die von außen an es herangetragen werden, sondern wenn es aus sich heraus eine Schwerkraft entwickelt. Interessanterweise wurde Kunst immer dann sofort angegriffen, wenn sie, wie etwa bei Marcel Duchamps, aus sich heraus eine Relevanz besaß. So wird heute aus der Mediokrität heraus alles angegriffen, was den Verdacht nährt, als elitär gebrandmarkt werden zu können. Eine echte Avantgardekritik wird damit zugleich erledigt, weil der Gegenstand, an dem sie vorgibt, Kritik zu üben, durch die Relevanzdiskussion degradiert wurde. Eine Avantgardekritik, wie es sie in den sechziger und siebziger Jahren gab, ist heute gar nicht mehr möglich. Heute müsste man fast alles grundsätzlich verteidigen, weil der Angriff von Leuten geführt wird, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Es ist sogar deren eigene Mediokrität, die ihnen den Ausweis liefert, dagegen vorgehen zu können.
Wäre denn eine Avantgardekritik noch nötig?
Wahrscheinlich nein. Aber Qualität ist nötig. Egal, in welcher Kategorie sie sich zeigt. Schwierig, darauf zu antworten. Ich finde: Kunst sollte durch Kunst kritisiert werden.
Welchen Sinn hat es noch, von „Neuer Musik” zu reden?
Eigentlich nur einen historischen.
Wolfgang Rihm: Karlheinz Stockhausen wehrte sich noch Mitte der achtziger Jahre vehement dagegen, den Begriff „Neue Musik” durch den der „zeitgenössischen Musik” zu ersetzen, weil „Neue Musik” für ihn in ästhetischer Kontinuität zu dem zu stehen hatte, was die Nationalsozialisten als „entartete Kunst” verboten hatten.
Diese Verbindung von Ästhetik und Moral führte aber letztlich dazu, dass andere Positionen mit der Moralkeule erledigt werden sollten. Ich habe das 1977 bei der Uraufführung meines dritten Streichquartetts in Royan selbst erlebt. Ich musste mir anhören, das sei „faschistische Musik”. Wahnsinn! Das war natürlich als Einschüchterung beabsichtigt, hat aber nicht gewirkt. Man wollte mich damit sofort mundtot machen. Wenn man als junger deutscher Komponist im Ausland auftrat und nicht eine in den entsprechenden Bereichen für gut befundene Ästhetik artikulierte, wurde man sofort mit dem Nazi-Vergleich konfrontiert. Ich habe es in England erlebt, dass die BBC im Radio einen Bericht über die Aufführung meines Stücks „Dis-Kontur” sendete. In dem Stück gibt es bestimmte Partien mit relativ harscher Akzent-Rhythmik. Sie wurden im Bericht überlagert vom Geräusch marschierender Stiefeltritte. Nahelegt werden sollte damit: „Jetzt marschieren die Deutschen wieder”.
Fanden Sie das amüsant oder beunruhigend?
Beunruhigend! Das war furchtbar! Ganz schrecklich!
Muss die „Neue Musik” die Gewaltgeschichte ihrer eigenen Diskurse endlich aufarbeiten?
Unbedingt! Neulich fragte mich Georg Nigl, ob es früher in Darmstadt oder Donaueschingen wirklich so schlimm gewesen sei, wie man immer lese: dass Boulez, Nono und Stockhausen so über Henze hergezogen seien, dass es diese Vehemenz des Sich-Gegenseitig-Wegkickens gegeben habe. Ja! So schlimm war es. In den Verlautbarungen von den intelligentesten Menschen!
Das waren Strategien ästhetischer Säuberungen.
Ich würde es mal so sagen: aus Naivität in deren Nähe kommend. Sicher stand nicht die Absicht dahinter, ein Konzentrationslager für tonale Akkorde verwendende Komponisten zu eröffnen. Aber es wurden Formulierungen gebraucht wie: Jemand, der diese Mittel verwende, sei „unnütz”. Im Sinne von „unwert”. Und sicher standen dahinter ganz kleinliche Interessen. Verlagsinteressen vielleicht auch. Heute ist das nicht mehr so. Nur herrscht heute eine andere Diktatur: die der Entscheidungsträger, die ausschließlich in der Unterhaltungswelt sozialisiert worden sind.
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Schließen wir daran an: In Berlin fanden im Januar gleichzeitig das Ultraschall-Festival für neue Musik und das CTM Festival statt. In beiden Festivals trat das Ensemble Mosaik auf; in beiden Festivals wurde mit Elektronik und Mikrotonalität gearbeitet. Trotzdem gilt Ultraschall als Kunst, CTM als Clubmusik. Was also ist „Neue Musik”? Die Klassifikation ist ja mit weitreichenden kulturpolitischen und finanzpolitischen Konsequenzen verbunden.
Natürlich. Deshalb sprach ich gerade von den wirtschaftlichen Interessen, die vermutlich schon vor Jahrzehnten die ausschlaggebenden Faktoren gewesen waren für die Maßnahmen ästhetischer Ausgrenzung. Man hat auf der einen Seite die Anbetung der Mehrheitsfähigkeit, auf der anderen Seite aber auch diesen Drang, dem Unrepräsentativen beizuspringen, ihm zu helfen. Dass man durch diesen Drang nicht immer bei dem landet, was wirkliche Substanz hat, macht die Diskussion um die Kunst wirklich schwierig. Wenn ich jetzt gefragt werde, ob ein Werk Substanz habe, möchte ich oft sagen: „Das hört doch jeder gleich!” Tut er eben nicht. Ich habe für mich selber, wahrscheinlich unbewusst gesteuert, die Entscheidung getroffen, dass ich, wenn ich in Gremien tätig bin, so gut es geht, helfe, aber meine eigenen Kriterien nur auf mich selber anwende und nicht andere daran messe. Könnte man das als Resignation bezeichnen?
Eher als Skepsis gegenüber sich selbst.
Das sowieso. Aber zur Skepsis gegenüber sich selbst gelangen zu können, ist bereits ein Privileg. Die Skepsis ist keine Widerfahrnis, sie ist eine meiner besten Hervorbringungen. Ich habe aus der Skepsis immer sehr viel Kraft gezogen: Eben nicht imitieren zu müssen, was den momentanen Erfolg garantiert, sondern dubios bleiben zu dürfen: in dulci dubio.
Quelle: F.A.Z.