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Alienation Kritik Material

2 Interviews

  1. Interview, aus dem Jahre 2019, geführt mit Joseph Vogl. Es beginnt prätentiös mit der Einleitung wird dann aber doch recht schnell ein Gespräch, dass ich gerne gelesen habe: geht um Probleme, Antworten&Fragen, zum Ende gar noch um Glück. Hier zu finden: https://www.praeposition.com/text/interview/joseph-vogl
  2. Interview, ganz frisch 2024, geführt mit Helmut Draxler. Auch hier der Start spezifisch, den Kunstverein München betreffend, dann geht es um Kunst und Politik, die Differenzen von Kunst und Politik, die Nützlichkeit der Psychoanalyse und dass Krise bedeutet die Kommunikation zu suchen und nicht sich zu verkriechen.
„Die Vorstellung eines Raums ohne Probleme erscheint mir zutiefst suspekt“
Helmut Draxler im Gespräch mit Jonas von Lenthe
Installationsansicht / Installation view, 15 Jahre 1980, Kunstverein München, 1995; Foto / photo: Ingrid Scherf.
Das vorliegende Gespräch mit Helmut Draxler, der von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstverein München war, entstand als Reaktion auf den Archivnewsletter Nr. 11 (April 2023), der sich mit dem Projekt faschismusersatz auseinandersetzte. Das Film- und Veranstaltungsprogramm, das 1993 unter anderem im Kunstverein München stattfand, reagierte auf die beunruhigende Zunahme neonazistischer Aktivitäten in deutschen Städten und auf ein neues gesamtdeutsches Nationalbewusstsein jener Zeit. Das Programm erstreckte sich über vier Monate und setzte sich aus Filmvorstellungen, Lesungen und Diskussionen im Kunstverein, im Backstage Club und im Neuen Theater München zusammen. Die Initiator*innen des Projektes richteten ihren Fokus unter anderem auf die Kontinuitäten des Faschismus in der deutschen Gesellschaft. faschismusersatz und sein historischer Kontext bilden den Ausgangspunkt für dieses Gespräch. Im Folgenden geht es um das widersprüchliche Verhältnis von Kunst und Politik, den Begriff der „Repolitisierung“, die Verstaatlichung von Erinnerungspolitik und heutige Formen des politischen Aktivismus.


Jonas von Lenthe: Du warst von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstvereins, Hedwig Saxenhuber die Kuratorin. Aus heutiger Sicht ist es beeindruckend, wie sich in eurem Programm diskursive, künstlerische und aktivistische Ansätze getroffen haben. Diese Gemengelage stellt den Kontext für das Film- und Veranstaltungsprogramm faschismusersatz dar, das 1993 unter anderem im Kunstverein stattfand. Wie würdest du dieses Zusammentreffen der unterschiedlichen Ansätze insbesondere in Hinblick auf das oft in diesem Kontext verwendete Schlagwort der Repolitisierung beschreiben?

Helmut Draxler: Die Veranstaltung faschismusersatz hatte ich damals ja nur ermöglicht, indem ich die Räumlichkeiten des Kunstvereins zur Verfügung gestellt habe, ohne sie aktiv mitzugestalten. Auch wenn die Veranstaltung also nicht den Kern unseres Programms darstellte, so steht sie doch für etwas Wichtiges. An diesem Beispiel lässt sich gut über eine Reihe von Fragen nachdenken: Welchen politischen Stellenwert hatte faschismusersatz damals? Wie kam es überhaupt dazu, in einem Kunstverein eine solche Veranstaltung zu machen? Und wie kann man aus der heutigen Perspektive auf sie blicken, in der sich die politischen Konstellationen wieder so deutlich verändert haben?Du hattest das Stichwort der Repolitisierung genannt, das damals in aller Munde war, nach den 1980er Jahren, in der die Politisierungswelle der 70er Jahre ja noch einmal unterbrochen wurde. In den 80ern wurde auf andere Formen künstlerischer und kultureller Repräsentation gesetzt. Rückblickend lässt sich feststellen, dass dies der letzte Einspruch sowohl gegen die Politisierung als auch gegen die Akademisierung der Kunstwelt war. So gab es in den 1980er Jahren zumindest in Europa nur ganz wenige diskursive Veranstaltungen. Erst ein für uns damals neuer Impuls aus den USA änderte das. Der Diskurs war eine Art Schnittstelle zwischen der Politik und der Kunst; man denke an die berühmten Aufsatzsammlungen der Zeit, wie Hal Fosters The Anti-Aesthetic: Essays on Postmodern Culture (1983) oder Brian Wallis’ Art after Modernism. Rethinking Representation (1984), die diese Entwicklung entscheidend angestoßen haben, indem sie eine linke Lesart der Postmoderne vorgeschlagen haben. Das hat uns am Kunstverein dazu gezwungen, nicht einfach nur ein Programm zu machen, sondern auch ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich Kunst überhaupt verorten lässt, im Verhältnis zu Diskurs und Politik ebenso wie im historischen Sinn, insbesondere in Bezug auf die Tradition der Avantgarde. Und wie lässt sich eine solche Konstellation im Rahmen der konkreten Arbeit am Kunstverein überhaupt darstellen?
faschismusersatz. film- und veranstaltungsprogramm. texte, filme, diskussionen zu faschismus, widerstand und postdemokratischen kontrollsystemen (ersatz facism. film and event program. texts, films, discussions on fascism, resistance and post-democratic control systems), München: Selbstverlag / Munich, self-published, 1993.
JvL: Du hast gerade in Wien gemeinsam mit Antonia Birnbaum eine Konferenz mit dem Titel Dialektik und Anti-Dialektik [1] organisiert. In deinem Vortrag Der Entzug des Denkens stellst du eine „Krise des Denkens“ fest und bringst diese in einen Zusammenhang mit den sich gegenüberstehenden Denkansätzen der Dialektik und der Anti-Dialektik. Du sagst auch, dass deine Generation von einem beispiellosen Siegeszug der Anti-Dialektik geprägt ist – vor allem im Namen des Post-Strukturalismus und den daran anschließenden Bewegungen zwischen Post-Operaismus und Neuem Materialismus, Gender, Queer und Postcolonial Studies. Könntest du die Diskurstraditionen dieser beiden Lager beschreiben? Wo würdest du euer Programm am Kunstverein in diesem philosophischen Konflikt zwischen Dialektik und Anti-Dialektik verorten?

HD: Wir waren damals alle sehr starke Anhänger*innen der Anti-Dialektik: Insbesondere Gilles Deleuze und Félix Guattari mit ihrem Anti-Ödipus von 1972, aber auch Jacques Derrida. Diese Kerntexte der französischen Theorie, die für uns zentral waren, verstanden sich seit den 1960er Jahren in ihrer Bewegung gegen Hegel wesentlich anti-dialektisch, also nietzscheanisch. Gleichzeitig, und ich denke, das war uns damals gar nicht bewusst, gab es natürlich immer auch ein Flirten mit der Dialektik, also mit Hegel. Aus diesem Grund ist auch die Lacan-Schule etwa um Slavoj Žižek in Ljubljana dann später immer wichtiger geworden. Für mich war Žižek damals zumindest eine Bestätigung, der Anti-Dialektik nicht in dem Sinne zu folgen, dass sich alles in Mikrodifferenzen auflöst, so, wie Deleuze in der Techno-Community in den 1990er Jahren rezipiert oder für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz produktiv gemacht wurde. Die Vorstellung, es gebe keine Unterscheidung mehr zwischen Kunst und Kultur oder zwischen Kunst und Politik, alles seien bloß „kulturelle Praktiken“ und darin löse sich alles in gleichsam empirische Differenzen auf, die man endlos ausbreiten kann, ist mir zunehmend unheimlich geworden.Meine konkrete Erfahrung war nämlich, und ich war damals selbst noch ein ganz großer Deleuze-Fan, letztlich eine andere. Meine Erfahrung war, dass sich diese Begriffe nicht einfach auflösen und dass wir eher versuchen müssen, mit den historischen Differenzen und den damit gegebenen Widersprüchen umzugehen. Und das heißt natürlich Dialektik! Es bedeutet, Kunst und Politik nicht einfach auf ein gemeinsames Programm der unendlichen Differenzierung zu projizieren, sondern sie in ihrer Differenz anzunehmen und in ihrer Konflikthaftigkeit zu diskutieren. Deshalb gab es am Kunstverein München ein Kunstprogramm, und es gab eben auch ein politisches Programm, im Gegensatz zu den vielen Vermischungsansätzen andernorts – man denke an die sogenannten Berliner Zusammenhänge oder die Shedhalle in Zürich – die versucht haben, die Differenzen total ineinander aufzulösen, und keine Differenzierung mehr zuzulassen.Deswegen war es so wichtig, nicht nur zwischen den künstlerischen und den politischen Ansätzen, sondern auch innerhalb des offiziellen Programms eine Differenz aufrechtzuerhalten, etwa zwischen ganz klassischen und unglaublich schönen Ausstellungen, wie zum Beispiel Louise Lawlers A Spot on the Wall von 1995 und dem „totalen Chaos“ bei der Sommerakademie von Stephan Dillemuth. Genau das sollte den Reiz ausmachen: die Besucher*innen sollten immer wieder mit Dingen konfrontiert werden, die sie nicht erwarten. Das Denkmodell dahinter ist eben im Wesentlichen ein dialektisches, das nicht auf die Auflösung der Kategorien setzt, sondern davon ausgeht, dass wir nur aus den Kategorien heraus mit diesen sinnvoll, das heißt in Bezug auf Negation und Widerspruch arbeiten können.
Installationsansicht / Installation view, Louise Lawler: A Spot on the Wall, Kunstverein München, 1995; Foto / photo: Wilfried Petzi.
JvL: Dir ist also wichtig zu betonen, dass faschismusersatz eine politische Veranstaltung war, die nicht den Anspruch hatte, als künstlerisches Projekt zu wirken?

HD: Ja, absolut. Dass faschismusersatz am Kunstverein stattfand, hatte ja vor allem damit zu tun, dass es damals schwierig war für diese – ich nenne sie mal – postautonomen Szenen in München Räume zu finden, weil München halt München ist. Daraus ergab sich überhaupt erst das Interesse. Gleichzeitig kam in den frühen 90er Jahren, vor allem von Hamburg ausgehend, in den sogenannten Wohlfahrtsausschüssen die Idee auf, man müsse wieder Bündnisse suchen zwischen der Pop-, Politik- und Musikszene. In diesem Kontext war es für uns wichtig daran festzuhalten, dass wir an einem Abend durchaus eine politische oder auch eine theoretische Veranstaltung machen können, dass dies jedoch nicht unbedingt Teil des offiziellen, künstlerischen Programms sein muss. Wir unterlegten diesen Veranstaltungen also zumindest keinen direkten Kunstcode, sondern ließen sie erstmal für sich funktionieren. Erst später sind daraus dann auch gemeinsame Projekte entstanden.

JvL: Welche Rolle hat die Psychoanalyse in den diskursiven Strömungen gespielt, in denen ihr euch damals aufgehalten habt?

HD: Für mich war die Psychoanalyse eine ganz entscheidende, grundlegende Erfahrung. Ich war seit den frühen 80er Jahren in psychoanalytischen Lesegruppen aktiv, doch gleichzeitig gab es dieses Verdikt von Deleuze und Guattari gegen die Psychoanalyse. Dieses Verdikt abzustreifen – ohne deshalb Deleuze und Guattari vollkommen zu verabschieden – stellte die Voraussetzung dar, mich auch persönlich immer stärker in psychoanalytische Denk- und Praxisformen zu involvieren. Im Laufe der 90er Jahre wurde die Psychoanalyse für mich zum wesentlichen Bezugspunkt, weil sie ein Modell dafür anbietet, wie man mit Widersprüchen und unterschiedlichen Meinungen auf persönlicher, sozialer, institutioneller und letztlich auch politischer Ebene umgehen kann. Gerade der praktische Aspekt war das wirklich Faszinierende daran: Wie kann man Polaritäten und Widersprüche nicht nur denken, wie in der philosophischen Tradition, sondern wie kann man sie an sich selbst und in kleinen Gruppen im psychodynamischen Prozess erfahren?Genau das scheint mir ja auch die große Frage unserer Gegenwart zu sein: Welchen inneren, psychologischen und welchen sozialen Raum gibt es überhaupt noch, in dem man die unterschiedlichen Meinungen aushalten und die Konflikte um ihre Differenz austragen kann? Auf allen Seiten überwiegen ja die Versuche, jede Gegenposition möglichst vollständig zu diskreditieren – was man gemeinhin Canceln nennt –, um sie in der auch für einen selbst verstörenden Dimension nicht wahrnehmen und sich dementsprechend nicht mit den eigenen Anteilen am jeweiligen Konflikt auseinandersetzen zu müssen. Psychoanalytiker wie Wolfgang Trauth oder Stavros Mentzos hatten solche Dynamiken als ein interpersonales Delegationsgeschehen in dem Sinn beschrieben, dass wir ständig eigene Anteile unserer bipolaren Motivations- und Bedürfnisstrukturen an andere auslagern, um deren grundlegende Konflikthaftigkeit nicht in und mit uns selbst austragen zu müssen. So kann ich mich als gut, liebevoll und anderen zugewandt begreifen, während die anderen böse, egoistisch oder gierig sind. Aus diesem interpersonalen Delegationsgeschehen lässt sich lernen, dass es nicht einfach die Anderen sind, die an den aktuellen Konflikten Schuld sind, die Medien oder irgendwelche Verschwörungen, sondern letztlich auch wir selbst. Von hier aus wird auch der Furor verständlich, der einen sofort trifft, wenn man versucht, aktuelle Konflikte nicht im Sinne einer solchen Schuld-Delegation zu adressieren. Wenn man nicht die Begriffe „Terror“, „Genozid“, „Pogrom“ oder „Apartheid“ verwenden möchte, verrät man gleich die ganze Bewegung, oder schlimmer noch, geht einen Kompromiss mit dem Gegner ein, in jedem Fall ist man ein moralisch vollkommen diskreditierter Mensch. Allerdings verursachen solche Mobilisierungsstrategien, dass der symbolische Ort, der Politik überhaupt erst möglich macht, verhindert und verstellt wird, sodass nur mehr die Bekenntnishaftigkeit von Politik übrigbleibt.

JvL: Was du ansprichst, bringt mich zurück zum eigentlichen Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Denn ging es bei faschismusersatz nicht auch gerade um den internalisierten Faschismus, also um die Frage, welches faschistische Potential in mir selbst steckt?

HD: Ja, das ist richtig. Ich denke, dieser Hintergrund im gleichsam alltäglichen Faschismus war sehr wichtig, in den Kontinuitäten auf der sprachlichen, mentalitätsgeschichtlichen und habituellen Ebene. Er war gleichzeitig auch der Ausgangspunkt für Adrian Pipers Ausstellung: hierbei ging es darum zu sagen, dass der Rassismus nicht delegiert werden kann; er findet nicht „drüben“, bei den anderen in der ehemaligen DDR statt, sondern im Hier und Jetzt. Rassismus ist allgegenwärtig und fordert uns alle heraus.
Installationsansicht / Installation view, Sommerakademie, Kunstverein München, 1994.
Man könnte sagen, dass das politische Projekt, der faschismusersatz, und das künstlerische Projekt von Adrian Piper dahingehend konvergierten, dass man dem zuvor beschriebenen Delegationsgeschehen zwar mit Sicherheit nicht gänzlich entkommen kann, dass es aber Momente gibt, an denen man innehalten kann und sich ansehen kann, was es mit uns genau auf der Ebene einer möglichen Politisierung macht. Vor diesem Hintergrund kann ich etwa keinen Antirassismus vertreten, der die Form einer absoluten Reinheitsfantasie annimmt – denn den differenz- und konfliktfreien Raum gibt es nicht. In einer solchen Fantasie reproduziert sich etwas von dem Rassismus, auf den ich bei den anderen zeige, um mich in dem Moment selbst davon freizusprechen. Genau darin liegt die Gefahr einseitig moralischer Zuspitzungen. Ich habe mehr Vertrauen zu Leuten, die sich ihre eigene Fehlbarkeit zumindest ein wenig eingestehen. Wir leben grundsätzlich in einem sozialen Raum, der von Unterschieden geprägt ist – das macht ihn erst zu einem sozialen Raum –, aus dem wir nicht vollkommen ausbrechen können. Die Vorstellung eines Raums ohne Probleme erscheint mir hingegen zutiefst suspekt, auch dort wo nur implizit mit ihr geliebäugelt wird.

JvL: Der Ansatz, den internalisierten Faschismus und Antisemitismus zu reflektieren, taucht auch bei den Antideutschen als Intervention innerhalb der deutschen antifaschistischen Bewegung in den frühen 90er Jahren auf. Während dieser Ansatz ja durchaus produktiv ist, kam es im Laufe der kommenden Jahre zur „problematischen Zuspitzung zu einem neuen Hauptwiderspruch“ der antideutschen Position, wie du es in unserem Vorgespräch formuliert hast. Ebenso hast du an meinem Text zu faschismusersatz im Archivnewsletter Nr. 11 kritisiert, dass Dirk Moses’ Analyse, auf die ich mich unter anderem beziehe, dem historischen Kontext von faschismusersatz nicht ganz gerecht wird. Denn in diesem Fall handelte es sich eben nicht um verstaatlichte Erinnerungspolitik, sondern um ein linkes, selbstorganisiertes Format in Opposition zum rechten Klima jener Zeit – Anschläge auf Asylunterkünfte, Schlussstrichforderungen und Neonazi-Aufmärsche –, das eine Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Faschismus forderte. Welche Prozesse haben in deinen Augen bei den Antideutschen zu jener „problematischen Zuspitzung zu einem neuen Hauptwiderspruch“ geführt?

HD: Welche historischen Dynamiken im Spiel sind, also die Frage, was zwischen heute und damals liegt, das ist natürlich die schwierigste Frage überhaupt! Selbstverständlich kann man nicht jede Form der Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf die aktuellen verstaatlichten Aneignungsformen reduzieren; auch, dass die Deutschen dies aus einem tief verinnerlichten Schuldkomplex heraus täten, halte ich für eine fragwürdige Argumentation. Und ich stimme dir zu, die innerlinke Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus, die die Antideutschen forderten, war mit Sicherheit wichtig. Doch wie kommt es, dass eine eigentlich so marginale linksradikale Bewegung, die in den sektiererischen K-Gruppen [2] der 70er Jahre wurzelt und über nicht mehr als ein paar marginale Zeitschriften verfügte, sich in ihrer Argumentationslogik heute scheinbar widerstandslos in die offizielle Staatspolitik mit Antisemitismusbeauftragten und einer entsprechenden Staatsräson einschreibt? Die Zeitschrift Jungle World, die ja über viele Jahre ein wichtiges Organ für linke Auseinandersetzungen war, hat heute scheinbar keine Scheu, auch einen ehemaligen israelischen General zu interviewen, der den aktuellen Konflikt aus einer rein militärischen Perspektive beurteilt. Das geht doch sehr viel weiter, als ich das für eine linke Perspektive bereit wäre für legitim zu halten. Unheimlich daran ist gerade, wie sich ein solches grundsätzlich wichtiges und interessantes, szenebezogenes Reflexionsprojekt in seiner politischen Positionierung heute kaum mehr von den konservativen Zeitungen FAZ und Die Welt unterscheiden lässt. Das heißt, es gibt hier keine Auseinandersetzung mehr, sondern nur ein Festhalten an einmal erworbenen Wahrheitspositionen. In meinen Augen steht dahinter allerdings eine wahnsinnige Angst, ein nicht-mehr-Vertrauen-können auf die eigene Argumentationskraft.Doch zurück zu deiner Frage: Für mich ist es auch ein Rätsel, warum manche Argumentationsweisen diese unheimlichen, geradezu widersinnigen Karrieren machen, die scheinbar quer zu allen Logiken von Dominanz und Marginalisierung stehen. Die Frage bleibt mithin, wie sich daran noch anschließen lässt. Wie gesagt, grundsätzlich ist die Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus wichtig, und natürlich mit jeder Form von Faschismus auf allen Ebenen, seiner Geschichte, seiner Verinnerlichung, seinen psychosozialen Dimensionen. Doch wenn ich den Antisemitismus zum neuen Hauptwiderspruch mache, also ein Muster herstelle, mit dem die ganze Welt interpretiert werden soll, dann löst das natürlich enorme Widersprüche aus, weil andere in durchaus legitimer Weise die Welt auch anders sehen können.
Vanilla Nightmares von / by Adrian Piper als Teil der Ausstellung / as part of the exhibition Adrian Piper Retrospektive, 1992; Foto / photo: Wilfried Petzi.
JvL: Siehst du einen Zusammenhang zwischen diesen Zuspitzungslogiken und dem Siegeszug der Anti-Dialektik, wie du ihn in der Philosophie seit den 90er Jahren festmachst?

HD: Ich denke, da gibt es mit Sicherheit Überlagerungen. Die Zuspitzung ist natürlich ein Teil des linken Erbes – schon immer waren die Genoss*innen von gestern die Feinde von heute nach dem Muster von „wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“. Genau dieses Erbe, die Aufeinanderfolge von unbedingten Wahrheitsansprüchen, die nicht selten mit religiösen Erlösungsvorstellungen überkodiert sind, gilt es in Frage zu stellen. Solchen Wahrheitsansprüchen würde ich entgegnen, dass die Stärke des linken Denkens gerade darin besteht, dass es sich eben nicht von selbst versteht, dass es mit vielen Problemen befrachtet ist, dass es aber von einer Art von Überzeugung getragen ist, dass sich die Auseinandersetzung um diese Probleme lohnt. Die eigene Position nur immer weiter zuzuspitzen, in der Hoffnung, irgendwann zum wahren Antagonismus zu gelangen, an dem sich dann die Konflikte lösen und die Welt gut werden wird – ich glaube, über 200 Jahre nach der Französischen Revolution können wir so nicht mehr an die Welt herantreten. Der so erbärmliche Zustand der Linken heute besteht ja gerade darin, dass wir nicht wissen, warum die Leute die Rechten wählen und sich von ihnen so angezogen fühlen. Wir haben keine klare Theorie, die das erklärbar macht, und dann bleibt nur mehr übrig, die alten Besitzstände in Bezug auf soziale und kulturelle Absicherungen zu verteidigen. Das entspricht einer Logik, die die Effekte der eigenen Aussagen und des eigenen Handelns nicht mehr mitdenken kann. Und es ist auch eine Frage der Form, wie mein zugespitztes Argument wirkt, welche Effekte es hat, wenn ich der anderen Person an den Kopf werfe, wie reaktionär und unreflektiert sie hinsichtlich ihrer kapitalistischen, kolonialistischen, sexistischen Dimensionen ist.Darin, also in dem, was die Linke ausschließt, indem sie es zurückstößt, liegt die Kehrseite der Zuspitzung. Was machen wir mit denen, die nicht so denken wie wir? Es gab die Guillotine, den Gulag, die maoistischen Umerziehungslager. Das ist eine Gewaltgeschichte, die ganz massiv innerhalb der Linken situiert ist, die man nicht einfach so fortschreiben kann. Das heißt, es gibt gute Gründe für eine Auseinandersetzung mit der Frage der politischen Form. Georg Lukács und andere haben bereits in den 30er Jahren gesagt, dass wir eine marxistische oder linke Ästhetik brauchen, denn die formalen Probleme lösen sich nicht von selbst. Solche Formfragen können ästhetische Fragen sein, sie können sogar mit dem von vielen verteufelten Geschmack zu tun haben, aber sie können eben auch politischer Natur sein. Für den aktuellen Aktivismus scheint mir dies eine ganz entscheidende Frage zu sein.

JvL: Wie sähe denn eine Form des Aktivismus aus, die ohne eine solche Lösungsgewissheit funktioniert?

HD: Der Aktivismus tendiert aus seiner inneren Logik heraus dazu, die Probleme als schon erledigt zu behandeln; dass man sie nicht mehr denken muss, sondern nur noch im Sinne der Aktion exekutieren muss. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, dass der Aktivismus zum einen stets von einer politischen Reflexion begleitet wird, die immer wieder Zielsetzungen und Methoden, gewollte Ergebnisse und ungewollte Effekte gegeneinander abwägt; und zum anderen, dass er sich selbst nicht als der Weisheit letzter Schuss versteht. Der politische Aktivismus muss Teil eines komplexeren Weltverständnisses bleiben. Und dazu gehören ganz wesentlich Kunst und Philosophie.




Helmut Draxler war von 1992 bis 1995 Direktor des Kunstverein München. Als Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker publiziert er regelmäßig zu Theorie und Praxis der Gegenwartskunst. Von 2014 bis 2023 war er Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst, Wien. Zuletzt erschien 2021 von ihm beim Brill | Fink Verlag Die Wahrheit der Niederländischen Malerei. Eine Archäologie der Gegenwartskunst. Beim tentare Verlag erscheint diesen November sein neues Buch Was tun? Was lassen? Politik als symbolische Form.Jonas von Lenthe ist seit 2022 Archivar am Kunstverein München.


Lektorat: Gloria Hasnay, Lea Vajda



[1] www.philosophie.uni-ak.ac.at/dialektik-antidialektik-21-23-3-2024-tagung/
[2] www.wikipedia.org/wiki/K-Gruppe
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wohlfahrtsausschuss_(1990er)

Eine Antwort auf „2 Interviews“

öffnen und offen halten

ich stelle den ziemlich langen Text von Alexander Garcia Düttmann dazu, Berlin Review Dezember 2024

Memo
Alexander García Düttmann
Der mittelmäßige Präsident
Veröffentlicht am 21.11.2024

Als ich vor elf Jahren London verlassen habe, wo ich fast zwanzig Jahre lang gelebt hatte, zuerst verloren und unglücklich, dann, nach einer mehrmonatigen Unterbrechung, glücklich und zu Hause, beruhte meine Entscheidung auf der absehbaren Entwicklung der englischen Universität. Sie beruhte auf der beschleunigten Umwandlung der geisteswissenschaftlichen Lehre in einen selbsttragenden Betrieb, die der Premier David Cameron unmittelbar nach seiner Machtübernahme angekündigt hatte. Schon in der zweiten Semesterwoche musste ich während des letzten autumn term, das ich an Goldsmiths gelehrt habe, Zufriedenheitsumfragen in meinen Seminaren durchführen, weil das Überleben jener Fächer, denen die öffentlichen Zuwendungen entzogen worden waren, nunmehr von der Anzahl der Studenten abhing, die hohe Gebühren für ihr Studium entrichten mussten, vor allem, wenn sie aus dem nicht-europäischen Ausland kamen, oder von der Gewährung von Fördermitteln, vor allem, wenn das Geld aus Brüssel floss. Die Universität behielt einen Prozentsatz der gewährten Summen ein. Um solche Mittel bewarb sich meistens eine fachübergreifende Gruppe von Akademikern, die wenig mehr verband als die Hoffnung, sich mit einem erfolgreichen Großprojekt für ein paar Jahre die Gunst der Universitätsverwaltung zu sichern und von der Lehre loszukaufen, durch die temporäre Einstellung billiger junger Arbeitskräfte, die gerade promoviert hatten.

Auf der Etage, auf der sich das Büro des Rektors befand, hatte man rings um den Treppenaufgang Fotografien jener Akademiker und Akademikerinnen ausgestellt, die sich besonders verdient um das College gemacht hatten, sei es durch ihre Bemühungen um den Anstieg der Immatrikulationen lukrativer Studenten, sei es durch ihren Beitrag zum Erwerb von profitablen Fördermitteln. Doch es soll nicht ausgereicht haben. Im Frühjahr 2024 berichtete die englische Tageszeitung The Guardian, die Rektorin habe einen Plan für ein «Umwandlungsprogramm» vorgelegt. Es sah die zwangsmäßige Entlassung von mindestens 132 fest angestellten Lehrkräften – oder von noch mehr Lehrkräften, wenn sie nur über zeitlich beschränkte Verträge verfügten. Für manche Fächer – darunter Englische Literatur, Soziologie, Kunst – konnten diese Sanierungsmaßnahmen, wie man sie in der deutschen Unternehmersprache nennen würde, eine Einbuße der Hälfte ihrer Lehrenden bedeuten. Bin ich also froh, der englischen Universität rechtzeitig den Rücken zugekehrt und eine verbeamtete Professur in Deutschland erhalten zu haben?

Am Ende war ich vernünftig und bin dem Rat nicht gefolgt, den mir mein alter Freund und Lehrer Giorgio Agamben viel später einmal geben würde: weder auf die Vernunft noch auf den Willen zu achten und immer das zu tun, was einem zusagt und wonach einem der Sinn steht. Die spanische idiomatische Wendung, die Agamben verwendet hat, lautet dar la gana, Lust auf etwas haben, etwas tun oder nicht tun, ohne dieses Tun mit Gründen zu rechtfertigen. Alle, die gleich Zeter und Mordio schreien – die Neunmalweisen –, weil sie darin nichts anderes zu erkennen vermögen als eine Freigabe ichbezogener Willkür, eine Selbstsucht, deren Verselbständigung nur zum Bösen führen kann, sollten sich sagen, dass ihr Einwand zu sehr auf der Hand liegt, um nicht vorweggenommen zu werden. Und sie sollten beachten, dass die gana auch an die Stelle des Wollens treten soll, dass Agamben die Vernunft und den Willen nennt.

Gana bedeutet Wunsch, Appetit, Verlangen, Hunger, Aussein auf etwas, und verweist philosophisch auf das Drängen des conatus, etymologisch auf Freude und Wonne, auf ein Scheinen oder Leuchten, das vom Jubel ausgeht, aber auch auf eine Gier und eine Begierde, auf einen offenen Mund. Die Zweideutigkeit der idiomatischen Wendung dar la gana besteht in der doppelten Betonung, die sie zulässt. Wenn ich sage, «es verlangt mich danach, dies oder jenes zu tun», das Es dabei betone, verweise ich auf etwas, das mein Verlangen weckt und mir dadurch zusagt. Wenn ich hingegen sage «ich tue, wonach es mich verlangt», den Selbstbezug dabei betone, verweise ich auf etwas, das mir zusagt, weil mein Verlangen danach trachtet. Die Rückbezogenheit der idiomatischen Wendung (me, mich), die nicht in der Grammatik gründet, in einem reflexiven Gebrauch des Verbs, schwankt so je nach Betonung zwischen einem Ich («mein Verlangen») und einem Es, das unbestimmt bleibt und von dem das Verlangen selber, das Ich, abhängt.

Nicht die Selbstsucht hatte Agamben also im Sinn, sondern das «Es» in seiner wesentlichen Unbestimmtheit. Statt um ein selbstsüchtiges Ich und dessen Gefallen zu kreisen, kreist alles um ein Es, von dem sich das Ich gleichsam einnehmen oder gebrauchen lässt, bevor es sich als Ich zu behaupten vermag, als Ich konstituiert. Alles kreist um eine Zusage, um ein Sich-Ansprechen- oder ein Sich-Berühren-Lassen: Was mir zusagt, ist das, was sich mir zugesagt oder zugewandt hat. Eine Offenheit steht hier auf dem Spiel, nicht ein Sich-Verschließen und Sich-auf-sich-Versteifen. Wenn mich England eingenommen hatte, warum dann das Tuch werfen und auf meinem Vorteil bestehen, die gana ihm hintanstellen? Was habe ich so gewonnen (ganado)? Ein anderer alter Freund und Lehrer, Hugo Santiago, hatte mir, als ich mich Anfang der neunziger Jahre von meinem geliebten Leben in Paris abwandte und schweren Herzens, aber mit einem Stipendium nach San Francisco zog, zu verstehen gegeben, man finde immer ein Mittel, wenn man etwas wirklich wolle, etwa an einem bestimmten Ort zu bleiben.

Der erste Kontakt

Meine erste Begegnung mit dem neugewählten Präsidenten fand wahrscheinlich in dem Jahr statt, als die Pandemie ausbrach und sowohl die Lehrveranstaltungen als auch die institutionspolitischen Sitzungen auf kleinen Bildschirmen und vor eingebauten Kameras stattfanden. Sieben Jahre waren seit meinem Weggang aus England vergangen. Der Präsident rief am 1. September überraschend ein digitales Treffen ein, zu dem alle Professoren und Professorinnen der Fakultät eingeladen wurden. In den noch ungewohnten Kästchen erschien auch, soweit ich mich erinnere, das gesamte Präsidium, also Kanzlerin und Vizepräsidentinnen.

Das Treffen wurde als wichtig eingestuft. Es ging um ein leidiges Thema, mit dem sich der Fakultätsrat in der Amtszeit des präsidialen Vorgängers bereits regelmäßig beschäftigt hatte. Die Hochschulleitung hatte mit dem Berliner Senat Verträge abgeschlossen, die die Aufnahme einer sehr hohen Anzahl an Lehramtsstudenten vorsahen. So wollte die Politik dem selbstverschuldeten Mangel an Kunstlehrern abhelfen, die Grundschulen und Gymnasien wieder mit Kunstlehrern auffüllen. Weil nun einerseits personelle, sachliche und räumliche Kapazitäten an der Fakultät fehlten, die den aufzunehmenden Studenten ein sinnvolles Lehramtsstudium ermöglicht hätten, andererseits die Mitglieder der Zulassungskommission die vertraglich festgesetzte Aufnahmezahl nur erreichen konnten, indem sie auf das Qualitätskriterium bei der Bewertung der Bewerbungen gänzlich verzichteten, ja es kaum ausreichend Bewerbungen gab, war zwischen den Forderungen des Senats, die von der Hochschulleitung unterstützt wurden, und den Ansprüchen der Fakultät, die sich den Forderungen nicht beugen konnte, ein Graben entstanden, der sich mit jedem Jahr weiter vertiefte.

Die Hochschulleitung wies gegenüber der Fakultät immer wieder darauf hin, dass der Senat, sollte die Universität vertragsbrüchig werden, seine finanzielle Unterstützung einschränken und durch diese Einschränkung den Fortbestand der Universität gefährden würde. Während des digitalen Treffens im Spätsommer 2020 hat der neugewählte Präsident den professoralen Fakultätsmitgliedern ein weiteres Mal vor Augen geführt, welche verhängnisvollen Folgen ihr andauernder Widerstand gegen die Einhaltung der Hochschulverträge haben würde, nicht nur für die Fakultät selber, sondern für die gesamte Universität. Er zeichnete ein apokalyptisches Bild, um seine Kollegen und Kolleginnen verstummen zu lassen und an die Kandare nehmen zu können. War das ein guter, ein schlechter, ein mittelmäßiger Präsident?

Die Institution ist in ihrer Funktionsweise stets selbständig genug, um die Fehler eines schlechten Präsidenten zumindest über einen längeren Zeitraum auszugleichen, weshalb die schlechten Präsidenten unbemerkt bleiben oder eine Ausnahme bilden. Institutionen sind auf mittelmäßige Präsidenten eingerichtet und angewiesen, so dass man mittelmäßige Präsidenten einfach P nennen könnte. Gute Präsidenten reiben sich an Institutionen, lassen sich von ihnen nicht aufreiben. Wenn nun der Präsident einer Universität sich an der Grenze aufhalten muss, die die politische Sphäre von der akademischen trennt, die Ausübung der Macht von der Freiheit des Geistes, dann ist ein mittelmäßiger Präsident immer jener, der den Druck an die Fakultäten einfach weitergibt, den die politischen Machthaber auf ihn und die Universität ausüben, um ihre eigenen Probleme zu lösen. Einfach weitergibt – sei es, dass er sich selber einschüchtern lässt, sei es, dass er sich einen Vorteil davon verspricht. Der mittelmäßige Präsident korrumpiert die Freiheit des Geistes, indem er sie der Ausübung der politischen Macht unterstellt. Der mittelmäßige Präsident versucht einzuschüchtern, weil er sich selber hat einschüchtern lassen. Denn sogar die Hoffnung auf den eigenen Vorteil, der eine zuvor erbrachte Leistung belohnen soll, unabhängig von ihrer Pertinenz, resultiert aus einer Einschüchterung, aus einem Handel, in dem eine Einschüchterung steckt. Wenn man X nicht tut, gleichgültig, wie sinnvoll das Tun von X ist, bekommt man Y nicht.

So kann man ein doppeltes Verständnis dessen gewinnen, was einen guten Präsidenten ausmachen mag. Ein guter Präsident ist einer, der sich nach außen, auch und vor allem gegenüber der politischen Macht, hinter – oder vor – seine Hochschule stellt. Er lässt sich nicht einschüchtern und schüchtert höchstens die politischen Machthaber ein, durch seine ungewohnte und unerwartete Offenheit und Entschlossenheit. Er bricht mit einer Politik, die ein Geschäft sein soll, das in Hinterzimmern oder auf Fluren abgewickelt wird, um eine offene und wenn es sein muss kämpferische Haltung einzunehmen, die auf Solidarität mit der Hochschule beruht. Diese Solidarität kann aber allein aus einer Idee erwachsen, die vielleicht nicht ausdrücklich von der Mehrheit der Hochschulmitglieder geteilt wird, aber doch von allen, für die die Universität eine Sache des Denkens bleibt: aus der Idee, dass die Freiheit des Geistes höher steht als ihre Zurichtung durch partikulare Zwecke und Interessen, durch Zielsetzungen wie die schnelle, fabrikähnliche Produktion von Lehrern, die die Gemüter der Wähler beruhigen soll.

Im Grunde ist das nicht eine Idee unter vielen, sondern die Idee selber. Die Freiheit des Geistes steht, um den Gedanken zu verallgemeinern, höher als jedes verwertbare Resultat und jedes Wissen, das sich aus verwertbaren Resultaten zusammensetzt. Die Freiheit des Geistes, so problematisch beide Begriffe sein mögen, bedeutet eine radikale Uneingeschränktheit, meint, dass der Geist wie der Wind ist, immer dort weht, wo er will. Man hört sein Sausen, wie es im Johannesevangelium heißt, weiß aber nicht, woher der Wind kommt und wohin er geht. Die Freiheit des Geistes ist ein anarchisches Spiel, ohne Warum. Dieser Wind, dessen Sausen den Glaubenden und den Denkenden in den Ohren klingt, scheint folglich jenes zu sein, was sie mitnimmt und einnimmt, wenn sie tun, wonach ihnen ist, wonach sie verlangt, wonach ihnen der Sinn steht und worauf sie Lust haben. Sie erfahren sich dann als solche, die eben aus dem Geist geboren sind.

Denken ist nicht eine abstrakte Tätigkeit, die mit Begriffen umgeht, sondern beginnt mit der Lust, zu denken, mit der gana. Die Bereitschaft zur gana, die Offenheit für sie, ist das, was das Denken mit dem Glauben teilt. Der gute Präsident und seine Anhänger haben begriffen, dass die Universität der Ort des Denkens ist, der Ort, wo man tut, wonach einem ist. Künftige Kunstlehrer an Grundschulen und Gymnasien, die während ihres Studiums von akademisch konservativen Professoren und Professorinnen gelernt haben, brav zwischen kunstgeschichtlichen Epochen und Stilen zu unterscheiden oder artig die kolonialen Implikationen der Olympia von Manet zu untersuchen, werden mittelmäßige Lehrer sein, weil sie nie das getan haben, wonach sie verlangte. Ein solches Tun entzieht sich auch jeder didaktischen Vorbereitung auf den Unterricht. Wenn der Geist als Wind, der weht, wo er will, und sich von keinem Hindernis einschüchtern lässt, wenn der Geist als gana gerade darin besteht, jedes Hindernis in ein Verlangen zu verwandeln und einen Anfang des Denkens zu markieren – es verlangt mich nach X, nach etwas Englischem, nach der englischen Natur, der englischen Empirie, dem englischen Humor, der englischen Liebenswürdigkeit –, dann eignet ihm eine auflösende Kraft. Der Geist ist in sich kritisch. Deshalb gibt es kein anderes Denken als ein kritisches, als ein Denken, für das das Verlangen nicht einfach ein gegebenes ist, das Verlangen nach X. Es hat an der Auflösung von X als Hindernis teil, an der Verwandlung von X in etwas, wonach es einen verlangt.

Die Universität ist ein Ort der Kritik – und zwar der Kritik an allem – oder sie existiert nicht. Der mittelmäßige Präsident tut, was er kann, um die kritische Auflösung aufzuhalten und das Es des Verlangens in ein Hindernis zurückzuverwandeln. Der mittelmäßige Präsident lässt sich von einem Ressentiment gegen den Geist beherrschen, gegen den Wind, der weht, wo er will. Er verstopft sich die Ohren, um das Sausen nicht zu hören. So dient er dem Bestehenden, dem politischen Establishment und dem Establishment des Wissens, der Gesellschaft als Establishment oder Einrichtung, ob er die «kritische» Integration neuer Technologien in die Lehre fördern will, sich für Kooperationen mit anderen Universitäten im Ausland einsetzt, weitere «Zukunftstage» plant oder den Zeitgeist in einem umfassenden Verhaltenscodex festhalten lässt, dadurch also das tut, was man als ein Eröffnen von Perspektiven betrachten könnte, als das Bemühen, auf der Höhe der Zeit zu sein.

«Eine Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Kommunikations- und Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen wird angestrebt», heißt es im Verhaltenskodex der Universität der Künste, wobei das gewählte Verb eher die Permanenz der Aufgabe anzeigt als ihre praktische Erfüllbarkeit in allen Fällen. Unter den Tisch fällt, dass Transparenz und Nachvollziehbarkeit in eine Spannung treten können: Die Transparenz, die eine rein formale Argumentation dem Anschein nach herstellt und die ebenfalls leicht hergestellt werden könnte, würde ein genau entgegengesetzter Weg eingeschlagen werden, hat mit einer inhaltlich begründeten Nachvollziehbarkeit nichts zu tun. Und wenn sich das Präsidium vorbehält, die Polizei zu rufen, weil die Universität kein Ort für politische Demonstrationen sein soll, oder auf der Webseite der Universität keine andere «Meinungsäußerung» zu Wort kommen lässt als die eigene, oder dafür sorgt, dass die Verträge von politisch unerwünschten Lehrbeauftragten oder Gastprofessoren nicht erneuert werden, fragt man sich, für wen die Entscheidungen eigentlich nachvollziehbar sein sollen, ob Nachvollziehbarkeit nicht ihrerseits von der Ideologie derer, die an der Macht sind, gekapert worden ist, ja ob es überhaupt eine Entscheidung geben kann, die sich aufgrund ihrer Nachvollziehbarkeit verallgemeinern lässt.

Der mittelmäßige Präsident ist also ein Feind der Spekulation. Er ist ein Feind des Unzeitgemäßen. Und er ist ein Feind von Entscheidungen, die sich nicht auf eine ideologische Nachvollziehbarkeit stützen und dadurch Transparenz beanspruchen. Der mittelmäßige Präsident orientiert sich immer am Gegebenen und an der Gegebenheit von Entwicklungen: an der Gegebenheit technologischer Entwicklungen, die bereits alles durchdrungen haben, bevor man «kritisch» auf sie reflektieren soll, an der Gegebenheit von Einrichtungen, die die Vernetzung fördern, indem sie miteinander in einen Austausch treten, der als Austausch schon begrüßenswert ist. Der mittelmäßige Präsident orientiert sich an der Gegebenheit einer Zukunft, die aus wiedererkennbaren Entwicklungen resultieren soll und deshalb mehr oder weniger vorweggenommen werden kann. Er orientiert sich an der Gegebenheit des Zeitgeistes, der letztlich als Machtinstrument gehandhabt wird.

Klopfzeichen des freien Geistes

Im Frühsommer 2018 hat die Fakultät Bildende Kunst der Universität der Künste eine große Konferenz organisiert, die den Titel «Gegen die Entmündigung von Kunst und Pädagogik» trug. Sie richtete sich gegen die Pädagogisierung der Kunsthochschule, die mit dem Primat des Lehramts, den das Präsidium im Bund mit dem Senat durchsetzen wollte, unweigerlich einhergehen würde. Ein Ungleichgewicht zwischen Studenten, die Bildende Kunst studieren wollten, und Studenten, die als Lehrer ausgebildet werden sollten, würde an der Fakultät entstehen. Dass das Studium der Bildenden Kunst oft auch als Studium der «freien Kunst» bezeichnet wird, ist vielsagend. Der Ausdruck, den man in der Kritik der Urteilskraft findet und der mit einer Abgrenzung zur Lohnkunst einhergeht, mag heute so anachronistisch wirken wie der Titel des Meisterschülers, den die Universität der Künste noch an die «freien» bildenden Künstlern vergibt, wenn sie ihr Studium abschließen.

Kant wusste um die Schwierigkeiten der Freiheit in der Kunst, nicht so sehr wegen der Verdingung der Künstler an Mäzene – oder heute an Agenten den Kunstmarkts und Kuratoren –, als wegen der Unabdingbarkeit des Zwangsmäßigen, Mechanischen, Körperlichen, ohne die der belebende und spielende Geist verdunsten würde. Die Rede von einer freien Kunst hat aber im Vergleich zum Lehramt Kunst ihre Berechtigung. Denn das Lehramtsstudium ist ein gegängeltes Studium, eingeengt durch den Umstand, dass es ein Doppelfachstudium ist, und durch die Erfordernisse des Bachelor- und Masterstudiums selber, das im Wesentlichen auf Reproduzierbarkeit der Lehrinhalte angelegt ist, auf eine Akkumulation von Wissen, auf Ergebnisse, die in kurzen Zeiträumen erzielt werden sollen, sich evaluieren und kommunizieren lassen.

In der Erzählung Ah! Ernesto, die Marguerite Duras 1971 veröffentlicht hat, entscheidet sich der kleine Junge Ernesto, nicht mehr in die Schule zu gehen, weil er dort lernen soll, was er noch nicht weiß: «Ich weiß», sagt Ernesto, «wie man Nein sagt, und das reicht völlig aus.» Die Spaltung des Wissens in das, was man eigentlich immer schon weiß, weil man es aufgrund der «Kraft» oder der «Macht» der Dinge weiß, und in das, was es durch schulisches oder universitäres Lernen erst noch zu wissen gilt und was letztlich ein äußeres Wissen bleibt, ein Bildungswissen, richtet es zu, verkehrt es zum Mittel der gesellschaftlichen und politischen Macht. Wo nun ein Ungleichgewicht zwischen Lehramtsstudium und Studium der bildenden Kunst entsteht, wo dem Lehramtsstudium ein durch die viel höhere Anzahl an Studenten etablierter Vorrang zukommen soll und es vom Studium freier bildender Kunst tendenziell oder explizit getrennt wird, beschneidet man die Freiheit, ohne die das Kunststudium – wie jedes andere Studium auch – auf eine schulische Veranstaltung herabgemindert wird, auf eine Antizipation des Unterrichts an Schulen.

Der Präsident, Vorgänger des Präsidenten, der ein paar Jahre später sein Amt unter den Bedingungen der Pandemie antrat, um die Trennung von Lehramtsstudium und Studium bildender Kunst durchzusetzen und die politische Macht zufriedenzustellen, hat zunächst versucht, die Konferenz «Gegen die Entmündigung von Kunst und Pädagogik» in die Unsichtbarkeit zu bannen und ihr Anliegen als Hirngespinst einer selbstgerecht intellektuellen Blase lächerlich zu machen. Er hat eine mögliche Teilnahme ausgeschlossen. Auf den Eröffnungsvortrag sollte in dem vollen Hörsaal, in dem die Konferenz stattfand, eine Podiumsdiskussion folgen. Plötzlich hörte man jedoch dumpfe Schläge, die aus dem hinteren Teil in den Hörsaal drangen. Das Publikum drehte sich um. So wurde die unerwartete und unangekündigte Anwesenheit des Präsidenten entdeckt, den man aufforderte, das Mikrophon zu ergreifen oder vorne ans Rednerpult zu treten und sich öffentlich zu erklären.

Woher kamen aber die Schläge? Zwischen den Sitzenden und den ringsum Stehenden verbreitete sich schnell das Gerücht, es handle sich um eine Performance, um eine Performance allerdings, die schwer erträglich war, bedrohlich, entwaffnend, gewaltsam. Denn immer wieder und quasi-mechanisch hat sich eine Studentin vorgebeugt und ihre Stirn fest und bestimmt auf die Holzleiste aufschlagen lassen, die im Hörsaal zu jeder Sitzreihe gehört und als Auflagefläche für Notizbücher gedacht ist. Bildende Kunst und Lehramtsstudium berührten sich so in der Paradoxie einer frei gegen sich selbst ausgeübten Gewalt, in der Paradoxie eines Geistes, der sich am Ungeist gestoßen hat, an dessen Zwang und Zwanghaftigkeit, in der Paradoxie einer Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Unfreiheit, von gana und Verdinglichung. Hier war das Hauptgeschehen. Hier, an dieser Grenze, ging es um Mündigkeit und Entmündigung, um Geist und Geistlosigkeit an einer Kunsthochschule.

Die Universität auf dem Scheiterhaufen

Welches andere Verständnis eines guten Präsidenten kann man aus der Einsicht gewinnen, der mittelmäßige Präsident lasse sich einschüchtern und gebe die Einschüchterung weiter? Es hat etwas mit dem Verhältnis des Präsidenten zum Außen zu tun, zu einem Außen, das sich der Diskursivierung entzieht, wie in Dostojewskis Legende oder Erzählung vom Großinquisitor. Der Großinquisitor steht – mit oder hinter dem Papst – einer Institution vor, der katholischen Kirche, die das Erbe der christlichen Liebeslehre angetreten hat. Sie hat diese Liebe aber nicht institutionalisiert, weil sie darin eine Anarchie ausgemacht hat, von der aus institutioneller Sicht lediglich Chaos ausgehen kann. Ein Leben, das sich von der christlichen Liebe bestimmen lässt, von der Glaubensfreiheit, von der freien Liebe, soll für die Masse der Gläubigen nicht lebbar sein, nur für eine erlesene Minderheit. Die Mehrheit muss sich dogmatischen Inhalten unterwerfen, vorgegebenen Gesetzen folgen. Deshalb hat sich die Institution gegen das Erbe gekehrt, das ihr anvertraut wurde: gegen Jesus und seine gefährliche Freiheit. Freilich nur, um an der christlichen Lehre festhalten zu können, an der Wiederkunft Christi, in einer Zukunft, die die Institution durch ihr bloßes Dasein und ihre bloße Selbsterhaltung unendlich aufschiebt. Die Institution hat Jesus korrigiert und verraten, ist einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, hat die menschlichen Bedürfnisse gestillt, den Hunger und das Glücksstreben, die Menschheit aber in Ketten gelegt, als eine von der Liebe, der Freiheit, dem Warten nicht länger überforderte Menschheit. Gleichzeitig hat sie dadurch die Möglichkeit eines zweiten Kommens Christi bewahrt und mit ihm das ihr anvertraute Erbe.

Der Großinquisitor muss sich als wahrer Institutionalist begreifen, weil er sich als wahrer Erbe begreifen muss, weil die katholische Kirche die ihr übertragene Aufgabe über Jahrhunderte immer erfolgreicher erfüllt hat und die Inquisition die letzte Stufe auf dem Weg zur vollkommenen Erfüllung dieser Aufgabe ist. Sie erhält die Menschheit am Leben, die einmal erlöst werden soll. In dem Maße nun, in dem eine Institution nicht ein leerlaufender Mechanismus ist, es ihr obliegt, eine ihr übertragene Aufgabe so gut wie irgend möglich zu erfüllen, könnte man im Großinquisitor eine Gestalt erkennen, die sich noch für den guten Präsidenten einer Universität als beispielhaft erweist. Denn die Frage, die sich ein guter Präsident stets stellen muss, ist die Frage, wie sich etwas, das als solches nicht schon institutionellen Charakter hat, ja nicht einmal einen institutionalisierbaren Charakter, etwa die Freiheit des Geistes, die Kunst, das Denken, dennoch institutionalisieren lässt, ohne dass es dadurch einfach preisgegeben würde.

Die Institution ist aus solcher Sicht immer eine Erfindung, in der selber von der Freiheit des Geistes etwas steckt. Nirgends wird das deutlicher als auf den letzten Seiten des Romans Finsternis bedeckt die Erde von Jerzy Andrzejewski, auf denen der sterbende Großinquisitor Torquemada eine jähe Erleuchtung hat und seinen Schüler Fray Diego inständig und vergeblich bittet, die Inquisition abzuschaffen und sie durch eine andere Institution oder durch etwas anderes als eine Institution zu ersetzen. Die Institution zeichnet sich also durch einen inneren Widerspruch aus, den sie nicht verinnerlichen kann und der ein Außen in sie hineinträgt. Einerseits schiebt sie als Institution die Freiheit des Geistes auf – die gana –, macht sie sich gegen das Sausen des Windes taub, andererseits zehrt sie aber, wenn sie den Namen einer Institution verdienen soll, genau von dem, was sie aufschiebt, macht sich die Anarchie in ihr, in ihrer konservativen Natur, unweigerlich bemerkbar und fordert den institutionellen Konservativismus heraus.

Der gute Präsident versucht, sich zu diesem inneren und doch gegen alle Verinnerlichung widerspenstigen, also unaufhebbaren Widerspruch zu verhalten, zu diesem Außen im Inneren der Institution. Der mittelmäßige Präsident weicht der Institution und ihrem Widerspruch aus, leugnet das Außen im Innen. An die Stelle der Spannung, die eine Institution durchzieht, setzt er entweder einen verwaltenden Pragmatismus oder eine Vision, ein Projekt, das er umsetzen will und an dessen Verwirklichung er scheitert, weil das fragliche Projekt bloß ein Ersatz für das Denken ist, für den Geist oder das Verlangen der gana. Der mittelmäßige Präsident unterminiert die Institution, von der er sich rühmt, dass er sie erhält. Nach Ablauf seiner Amtszeit bekommt er entweder einen angesehenen Posten, eine ehrbare Stellung als Vorsitzender einer Stiftung, oder er verbittert, weil der Weltlauf seine Tugend nicht belohnt hat, seine Vision, sein Projekt nicht verstanden wurden.

Die lebende Legende vom mittelmäßigen Inquisitor

Dostojewskis Legende oder Erzählung, eingebettet in den Roman Die Brüder Karamasow, besteht weitgehend aus einer Selbstrechtfertigung. Jesus ist vorzeitig zurückgekehrt, aus Mitleid mit dem Leiden der Menschen und auf die Gefahr hin, dass seine Rückkehr ihn unglaubwürdig macht. Er wird von den Menschen auf der Straße sofort wiedererkannt, ohne dass es für ein solches Wiedererkennen Merkmale gäbe. Würde es sie geben, wäre das Wiedererkennen nicht das Wiedererkennen Christi. Auf einen Wink des Großinquisitors, seines unauffälligen Doppelgängers, wird Jesus eingesperrt und wartet in einem Kerker der Inquisition darauf, am folgenden Tag auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. In den Augen der Institution, die ihn vertritt, ist er der «schlimmste aller Häretiker».

Nachts erhält er Besuch vom Großinquisitor. Dessen apologetische Rede nimmt den größten Teil der Geschichte ein. Der lange Monolog setzt das Wesen der Institution auseinander, nicht nur das Wesen der katholischen Kirche, sondern das Wesen von Institutionen überhaupt. Diskursivität ist für die Institution insofern konstitutiv als sie die Darlegung einer übernommenen Aufgabe ist, und sei es durch die Kohärenz ihres Funktionierens. Die Institution führt immer auch vor, wie sie die übernommene Aufgabe erfüllt. Diskursiv sind Institutionen als Rechtfertigungen ihrer selbst. In Wahrheit ist auch jeder Diskurs zunächst und zumindest implizit eine Rechtfertigung seiner selbst, eine Rechtfertigung dessen, dass gesprochen und nicht gehandelt wird, dass man zusätzliche Zeit in Anspruch nimmt. Der Diskurs rechtfertigt sich selber, indem er die Lücke zwischen Rede und Handlung zu schließen trachtet, das heißt: die Handlung als eine kohärente und wiederholbare hinstellt, sie institutionalisiert. Am Ende küsst Jesus, der kein einziges Wort spricht, auf den Diskurs der Institution mit keiner Widerrede und keiner Frage sich einlässt, den Großinquisitor ungestört reden lässt, den alten Mann auf den Mund.

Die ungeheure Geste oder Handlung oder Tat, die vielleicht nicht einmal eine Geste oder Handlung oder Tat ist, wenn diese noch unweigerlich an dem Diskurs teilnimmt, hat zur Folge, dass der Großinquisitor innerlich erbebt, der Kuss ihn außer sich bringt. Christus wird mit der Ermahnung freigelassen und zurückgeschickt, er solle sich vor dem Ende aller Zeiten nie mehr blicken lassen. So sehr sich die Kommentatoren und Interpreten des Großinquisitors bemüht haben, den rätselhaften und zugleich keiner weiteren Erklärung bedürftigen Kuss in den Diskurs hineinzuziehen – ist er ein Affekt, dem es an Form mangelt, ein Zeichen der Vergebung, ein dankendes Rechtgeben, das Symbol und Unterpfand einer wahren Mitte, der ursprüngliche Ausdruck einer Gesinnungsethik, die Mitteilung eines unendlichen, singulären, stummen Mitleids, die Leerstelle in einer Geschichte des modernen Zynismus, die ganzheitsstiftende Bestätigung der Allgegenwart der Liebe? –, so sehr muss der Entzug der Geste, die diskursive Uneinnehmbarkeit der Liebe, der Freiheit oder des Geistes, ihrer Gewalt und ihrer Anarchie, als unvermeidliche Heimsuchung der Institution erfahren werden. Der mittelmäßige Präsident überzieht den Riss in der Institution mit dem Kitt der Diskursivität, was nicht bedeutet, dass er ein guter Redner und tatsächlich der Sprache mächtig ist – ein paar Signalworte reichen, Kleinschreibung tut’s auch.

Weil er die Heimsuchung verschwinden lässt, hat der mittelmäßige Präsident keinen abgründigen Humor. Er ist humorlos und repräsentiert, was eine gewisse Beliebtheit nicht mindern muss, die Anrede mit dem Vornamen nicht verbietet. Er ist verängstigt oder beflissen oder beides, beflissen, bemüht, dienstfertig, weil eben im Tiefsten verängstigt, unsicher, ungelenk, wie einer, der meint, die Institution inwendig und auswendig gut zu kennen, seinem Wissen aber letztlich misstraut. Hat er den Kuss vergessen oder ist er nie geküsst worden? Auf dem Sommerfest werden die Honoratioren, die Spender und Freunde, die Vertreter der lokalen Politik und der Zirkel der bevorzugten Akademiker und Künstler in einem privaten und abgeschirmten Garten von ihm empfangen, in dem man besseren Sekt und bessere Häppchen serviert. Dann führen freiwillige Helfer und Helferinnen die Gäste durch die Ateliers und Studios der jungen Anfänger, der jungen Talente und der jungen Stümper. Das Gespräch und der Diskurs spinnen sich um die Kunst, aus der Kunst der Institution heraus. Wer zieht schon ein Scheckbuch? Die Institution zeigt, wessen sie fähig ist.

Der mittelmäßige Präsident vermag nicht einzusehen, dass Beißen das einzig mögliche Verhältnis zur fütternden Hand ist und dass es gilt, an der Institution das Beißen zu ermutigen, die beißende und geistreiche Kritik, die nicht aus einem Selbstinteresse heraus geübt wird, aus einem Widerstand, der nur dem eigenen institutionellen Fortkommen dienen soll. Wird sie um ihrer selbst willen geübt? Gewiss doch, auch um ihrer selbst willen! Wo das Verlangen der gana im Spiel ist, kann Kritik nicht ein bloßes Mittel sein, sondern ist ebenfalls ein Selbstzweck, etwas, woran man Freude und Lust empfindet. Das macht sie nur um so wirksamer. Keine Kritik trifft ihren Gegenstand mehr als jene, die von einem Verlangen getragen wird, das ein Verlangen nach ihr ist, nach ihrem Biss.

Der mittelmäßige Präsident vermag ebensowenig einzusehen, dass das einzig mögliche Verhältnis zur Zukunft jenes ist, das in ihr die Sintflut erblickt, die nach uns kommt. Denn nur dadurch kann die Institution das Gewicht auf die Dringlichkeit des Hier und Jetzt legen, ohne einem Präsentismus oder Logozentrismus zu verfallen, der jedes kommende Ereignis in eine Verlängerung der Gegenwart verkehrt, zumindest, wenn es um mehr geht als Machination und Manipulation. Einzig wer das Hier und Jetzt in seiner Dringlichkeit erfährt, das heißt: die Institution als eine in Frage gestellte und problematische betrachtet, als Institution ohne Existenzrecht, trotz Erbe oder Aufgabe, kann sich vom Kommenden überraschen lassen und es nicht als einen schon vorhandenen, aber noch unbekannten Sachverhalt verneinen. Einzig wer das Hier und Jetzt in seiner Dringlichkeit erfährt, betrügt sich nicht um das Ereignis, das heißt: um die kommende Auslöschung der Institution. Einzig wer das Hier und Jetzt in seiner Dringlichkeit erfährt, misstraut der Anbiederung an die Gegenwart und ist zum «Tigersprung in die Vergangenheit» bereit.

Der mittelmäßige Präsident generiert institutionellen Konformismus, indem er das Gespräch beschwört, das die beißende Kritik entschärfen, der vorausplanenden Institution ihre Zukunft sichern und dem beschwichtigenden Jargon einen festen Platz zuweisen soll. Das «Gespräch» oder der «Dialog» sind heute Begriffe für den aufoktroyierten Konsens, der den Dissens eskamotiert. «Beiß die Hand, die Dich füttert!», «Nach uns die Sintflut!» sind die Parolen, die der gute Präsident, der die erschwinglichen Regenbogenfarben verschmäht, auf das Banner der Universität drucken lässt.

Barone und Querulanten

Meine zweite erwähnenswerte Begegnung mit dem neugewählten Präsidenten war zufällig. Nach einer Seminarveranstaltung kam ich an einer halb offenen Tür vorbei, an der Tür zu einem der größeren Räume, in dem, wie ich wusste, gerade eine Diskussion stattfand. Es ging dabei um die Universität der Künste und die bevorstehende Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens als Universität. Marcus Quent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik, sollte an der Diskussion teilnehmen, und so war ich neugierig gestimmt und voyeuristisch aufgelegt. Umgeben von Baronen, wie mein früherer Londoner Kollege Howard Caygill sie vielleicht genannt hätte, saß vorne der Präsident. Die Diskussion war ziemlich öde, trotz Quents Bemühungen, ihr Leben einzuhauchen. Ich stand im hinteren Teil des Raums, meine Anwesenheit war aber schon bemerkt worden. Konnte ich nun wieder verschwinden?

Plötzlich hatte die Konstellation von Vogelfreiheit – ich war weder ein Baron noch hatte man mich zur tätigen Teilnahme eingeladen – und Zugzwang – mein Erscheinen war nicht unbeachtet geblieben – einen unerwarteten Effekt gezeitigt. Ich hatte eine Idee, die mir sofort als die einzig mögliche Antwort auf die aufgeworfene Frage vorkam, die Frage nach der Feier. Nichts hätte mich mehr zurückhalten können. Ich meldete mich umgehend zu Wort und teilte allen meine Idee mit. Die Feier durfte nicht intern, von Mitgliedern der Universität gestaltet werden, sondern musste von einer eigens beauftragten externen Einzelpersonen oder einem eigens beauftragten externen Team imaginiert und organisiert werden, von solchen, die mit der Universität nichts zu tun hatten, denen aber die Kunst und die Künste am Herzen lagen, die Kunst und die Künste einer Universität der Künste. Wir, die Mitglieder der Universität, würden uns dem Entwurf bedingungslos unterstellen und versuchen, ihn praktisch auszuführen. Allein auf solche Weise, durch das Eingehen des mit dem genannten Auftrag verbundenen Risikos, konnte ein anderes Risiko vermieden werden, das Verkommen der Feier zu einem Betriebsfest, das die vielen künstlerischen Talente an der Universität zur Schau stellen würde. Allein auf solche Weise konnte man mehr tun als sich gegenseitig und vor Zuschauern und Zuhörern auf die Schultern zu klopfen. Sicherlich würde die Entscheidung, wer mit der Ausrichtung der Feier betraut werden sollte, eine umstrittene sein.

Während der eine oder andere Baron sich amüsiert im Raum umsah, man mit hochgezogenen Augenbrauen an den Skandal erinnerte, in den die unvermutete Entdeckung antisemitischer Motive auf einem riesigen künstlerischen Prospekt die Leitung der letzten Documenta verwickelt hatte, verharrte der Präsident, dessen Gestalt etwas von einem Riesen hatte, der sich in seiner Haut nicht ganz wohl fühlte und durch seine dunkle Kleidung den Verdacht der Plumpheit zerstreuen wollte, in starrer Haltung, als hätte er meinen Vorschlag nicht gehört, ja nicht hören wollen, oder als hätte er Schwierigkeiten gehabt, ihm zu folgen. Er ließ sich nicht berühren, wollte das Vorgebrachte so schnell wie möglich wegwischen und zur Tagesordnung zurückkehren, die ihn davor schützen sollte, in mögliche Fallen zu tappen, die Provokateure stellen, oder ohne ersichtlichen Grund alles Gewohnte und Besprochene über den Haufen zu werfen.

Ich habe die bewusste Nichtbeachtung, die unterdrückte Irritation, die auferlegte Zurückhaltung zwar wahrgenommen, mich aber von ihnen nicht beeindrucken lassen, weil ich zu stark von dem für mich unwiderstehlichen Elan der umrissenen Idee eingenommen war und dem unverhofften Gedanken nachhing, der meine Anwesenheit mit Sinn erfüllte. Meine arglose gana ließ sich nicht stören. Die Menschenfresser sollten weiterhin verborgen bleiben, die Oger stillhalten. Später habe ich den Gedanken gemeinsam mit Marcus, der eigene Einfälle beisteuerte, in einem Artikel entwickelt, der im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht wurde. Als mögliche Kuratorinnen der Feier haben wir Pussy Riot genannt. Aus dem Präsidium, dem wir den Artikel zugeschickt haben, kam nichts. Dieses Nichts sollte wohl kaum als eisige Stille wirken, sondern lediglich als die Gleichgültigkeit eines business as usual, das sich von den Querschüssen der unvermeidlichen Querulanten nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Der gute Präsident weicht einer ansteckenden Begeisterung nicht aus, die immer auch eine Askese ist, erklärt sich bereit, ein Risiko einzugehen oder das Eingehen eines Risikos zu erwägen und zu ermöglichen. Der mittelmäßige Präsident ist von Anfang an verunsichert, weil er sich vor seinem Mangel an Einbildungskraft fürchtet, davor also, einen falschen Schritt zu tun. Ihm geht deshalb die Urteilskraft ab, oder vielmehr: Seine Urteilskraft bleibt in der Konvention gefangen, in dem, was man seiner Überzeugung gemäß von ihm erwartet. Vielleicht ist er weniger ein Gefangener, dem der Befreiungsschlag misslingt, als ein Befangener und Benommener, ein dunkel Ahnender, der mit seinem Glück nicht glücklich wird. Wohin es ihn ziehen mag, richtet sich eine Wand auf, die der eigenen Einschüchterung. Daher seine gelegentlichen autoritären Anwandlungen und Ausfälle, seine Drohungen und Abrechnungen, die ihm nicht einmal Schadenfreude bereiten, weil er doch meint, die Universität vor dem Schlimmsten zu bewahren. Er werde diese Fakultät zerschlagen, wenn sie nicht endlich Vernunft annehme! Er werde verbeamtete Professoren und Professorinnen versetzen lassen! Er werde die Stellen von Professoren und Professorinnen, die der Universität nicht zuträglich seien, weil ihre Haltung zu destruktiv, zu aufrührerisch, zu unzuverlässig, zu kritisch sei, keinesfalls verlängern!
Unterbrecht den Partizipationszwang!

Die guten Zeiten sind vorbei und es ist einfach nicht mehr möglich, sich weiterhin über die Anforderungen der Wirklichkeit hinwegzusetzen. Dieser Aufruf zur Realitätsgerechtigkeit ist oft nichts anderes als ein Mittel der Unterdrückung. Erstaunlich ist, wie schnell man bereit ist, ohne Nachfragen dem Aufruf zu folgen, auch als Akademiker. Das Argument der Barone, man habe doch eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber, in der Lehrer fehlen und dringend gebraucht würden, müsse nun so rasch wie möglich für Nachschub sorgen, scheint auf den ersten Blick überzeugend zu sein, ja unabweisbar, vor allem, wenn man Akademiker und zugleich Mutter oder Vater ist und sich um die Reproduktion der Gattung und ihrer Gesellschaft einen Verdienst erworben hat.

Die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft kann aber an einer Universität höchstens darin bestehen, Studenten zu Schullehrern und Schullehrerinnen auszubilden, die so gute Lehrer wie möglich sein werden, eben damit die Gesellschaft nicht der Tendenz zur Entmündigung, zur Infantilisierung und Barbarisierung weiterhin nachgibt, die sie in der Gegenwart bestimmt. Denkbar ist eine solche Ausbildung nur, wenn nicht die Quantität als entscheidendes Kriterium angesetzt wird, Präsidium und Fakultät nicht Druck auf Zulassungskommissionen ausüben, mit dem Ziel, dass von X Bewerbern und Bewerberinnen fast alle genommen werden und am Ende die willkürlich festgelegte Zahl unentbehrlicher Aufnahmen mit großer Wahrscheinlichkeit erreicht wird, trotz nachträglicher Ablehnungen, attraktiver Angebote von anderen Universitäten oder Umorientierungen in der Berufswahl.

Während einzelne Mitglieder der Kommission in Tränen ausbrechen oder anhaltende Lachanfälle sie überkommen, weil sie den institutionellen Zwang verspüren, Bewerbungen anzunehmen, die sie eigentlich verwerfen müssten, zumindest aus der Perspektive der qualitativen Qualifikation, stellen andere, die ihre Dienstfertigkeit beweisen möchten, mit kaum verhohlener Genugtuung fest, nun werde durchgegriffen. Die fünf oder sechs Bewerber, die man nicht nimmt, sind die Benachteiligten des arbiträren Verfahrens, das Bauernopfer. Ihre Arbeiten sind nicht schlechter als die der meisten anderen, ihre Äußerungen nicht konfuser oder kunstfremder. Sie werden aber gebraucht, um die Funktionstüchtigkeit des Systems zu belegen und der Universität – der Gesellschaft ein Alibi zu verschaffen. Dass sie nicht zum Studium zugelassen werden, ist das Unterpfand der Qualität, um die es gar nicht mehr geht. Es werden nicht nur Lehrer gebraucht, sondern auch ein paar wenige Bewerber, denen der Riegel vorgeschoben werden kann. Sie haben keinen Platz in der Wirklichkeit, der die Universität jetzt endlich gerecht wird, wie es ja ihre gesellschaftliche Aufgabe sein soll. Ohne dass es ihnen wohl dämmert, konstituieren sie das Sub- oder Lumpenproletariat der Realitätsgerechtigkeit, die Reservearmee der Auszubildenden, eine quantité négligeable.

Ich habe vor einem Treffen der Zulassungskommission geträumt und den Traum erzählt. Ihre Mitglieder wurden von einem Bus abgeholt, den die Universität geschickt hatte, und zu einem unbekannten Ort gebracht, ein niedriges modernes Bürogebäude in einer grünen Umgebung. Die Kommissionsmitglieder wussten nicht, warum man sie abholt und wohin man sie bringt. Nach ihre Ankunft wurden sie getrennt, durch lange Korridore geschleust und in kleinen Gruppen in Büros eingesperrt, in denen sie, ratlos und verängstigt, warten sollten. Worauf? Die Abstraktheit der Zahlen, die Abstraktheit des Jargons, der die permanente Beantragung von Fördermitteln, Stipendien und Verlängerungen, die Flut der Empfehlungs- und Bewerbungsschreiben, die unentwegte Evaluation von Kollegien, Clustern, Forschungszentren, Fakultäten und Instituten vorprägt, ob es sich nun um einen Verwaltungsjargon handelt oder um einen Genderjargon, der seinerseits in den Verwaltungsjargon Einzug gehalten hat, um den Jargon der Klimakrise, der Nachhaltigkeit, des Postkolonialismus, der Antidiskriminierung, der Diversität, um nur ein paar Beispiele zu nennen – diese Abstraktheit immunisiert die Realität, der man gerecht werden soll, und vertreibt aus der Universität den Impuls, ohne den sie erstarrt und der allein an ein Reales zu rühren vermag: den spekulativen Impuls, den Impuls des Geistes, den Impuls der gana. Die Schablonen des Wissens, die hin- und hergeschoben werden, montiert und demontiert, lassen keinen Spielraum mehr für das Denken und die Kunst. Und der Konformismus der Realitätsgerechtigkeit – die guten Zeiten sind vorbei – erstickt den Mut, die Kühnheit, die Verwegenheit, das Wagnis, verwirft die wertlose oder verlorene Wette.

Nehmt nur einen Bewerber auf oder zweihundert, aber niemals so viele, wie der angebliche Bedarf es vorschreibt! Verfasst keine Bewerbungen und keine Anträge, deren Sprache vorgefertigt und als richtige oder wünschenswerte Sprache vorgeschrieben ist, die Sprache, deren Verwendung den Erfolg verbürgt! Findet Zugänge zu Problemen und Autoren, die als aussichtslos, nebensächlich, unwissenschaftlich, überholt, unzeitgemäß, unbotmäßig abgetan werden, um der Abstraktion sowohl der approbierten Diskurse und Methoden als auch der Quacksalberei zu entgehen! Durchschaut den Jargon der bereits angegrauten Gegenwartskunst – community art, political art, participative art –, der sich als Kitt für Egalisierungen und Hierarchisierungen gleichermaßen eignet, je nachdem, wie er an der Universität eingesetzt wird! Arbeitet mit den Bewerbern, die ausgeschlossen wurden, und weigert euch, mit den angenommenen Bewerbern zu arbeiten, nicht, weil sie doch besser sind oder genauso gut, oder weil sie euer Verständnis nötiger haben als die anderen, sondern weil ihr das System sprengen müsst, das die Universität den mittelmäßigen Präsidenten überantwortet, die euch schikanieren! Misstraut den Agenten der Vermittlung an der Universität und ihren Verfahren der kanalisierten Konfliktlösung, von den Vertrauenspersonen und den Beauftragten bis zu den Didaktikern! Sie überantworten die Universität den mittelmäßigen Präsidenten, die immer gegen Gewalt und für Vermittlung sind, während sie exmatrikulieren und die Polizei rufen. Denn das Konkrete ist nicht mehr bei der Vermittlung, sondern beim Unvermittelten und Vermittlungslosen, das die Pseudokonkretion der vorgestanzten Bedeutungen unterbricht! Weil sie buchstäblich Denkanstöße erfahren und verleihen, ihrer verrückenden und entrückenden Gewalt ausgesetzt sind und, ob sie wollen oder nicht, ihrerseits solche Gewalt ausüben, sind Lehrende an Universitäten keine Vermittler. Was sie vermitteln, sind nicht Inhalte, sondern Unterbrechungen.

Die geschlossene Universität

Im Herbst 2023 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung von einer pro-palästinensischen Performance, die an der Universität der Künste, im Gebäude der Fakultät Bildende Kunst, stattgefunden hatte, aus Protest gegen die als einseitig gewertete politische Stellungnahme, die der Präsident nach dem Überfall der Hamas auf die Webseite der Universität geladen hatte. Der Berichterstatter, der die Performance nicht selber gesehen hatte und sich auf eine Video- oder Handyaufnahme berief, erwähnte die rot bemalten Hände derer, die die Performance gestaltet hatten und wies darauf hin, dass es nahelag, mit dieser Bemalung eine antisemitische Symbolik zu verbinden. Der anwesende Präsident wollte, so der Berichterstatter, intervenieren, sich rechtfertigen, argumentieren und diskutieren, soll jedoch barsch von den Mitwirkenden und ihren Unterstützern angegangen, ja niedergebrüllt worden sein. Schnell mehrten sich die Artikel in den Zeitungen. Eine mögliche Symbolik wurde zum Fakt umgemünzt. Man vermutete Antisemitismus an deutschen Hochschulen. Die genannte Performance und das Verhalten der Performer sollte dafür beispielhaft sein.

Aus dem Präsidium kam einige Wochen später eine Nachricht mit der Einladung, an einem Treffen teilzunehmen, bei dem Vorschläge besprochen werden sollten, wie die Universität auf die in der Presse geäußerten Verdächtigungen und Vorwürfe reagieren und Autoritarismus und Antisemitismus in den eigenen Reihen, unter Studenten und Lehrenden, bekämpfen könne. Da ich selber zu dem Zeitpunkt des angekündigten Treffens verhindert war, machte ich dem Präsidenten im Voraus einen Vorschlag. Die Universität der Künste solle sofort eine große öffentliche und fakultätsübergreifende Veranstaltung planen, um mit Journalisten, Studenten, Professoren, Künstlern über die Performance und ihre Folgen zu sprechen. Wichtig schien es mir, auch das Video zu zeigen, auf das immer wieder Bezug genommen worden war. Und da es sich um eine Veranstaltung an einer Universität der Künste handeln sollte, habe ich ebenfalls vorgeschlagen, dass ein Künstler sie mit einer Kamera dokumentiert: der fast neunzigjährige Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg. Ich hatte an der Berliner Volksbühne kurz zuvor seine Demminer Gesänge gesehen und in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ein Gespräch mit ihm auf der Bühne und vor der Leinwand geführt, eingeladen von Frieder Schlaich. Demminer Gesänge, ein Film, den die Berlinale wohl aus ideologischen Gründen nicht in ihr Programm hatte aufnehmen wollen und der jetzt zum ersten Mal in Berlin vorgeführt worden war, hatte mich beeindruckt. Ich konnte verstehen, warum Boris Groys in einem Gespräch mit Syberberg, das zehn Jahre vorher im Roten Salon der Volksbühne stattgefunden und das schon eine kleine Auswahl aus dem Material vorgestellt hatte, aus dem der Film schließlich entstand, ihn als den wichtigsten und kompromisslosesten Gegenwartskünstler bezeichnet hatte.

Demminer Gesänge ist eine Art hand- oder hausgemachter Film, der um eine Gemeinschaft kreist, die vielleicht schon im Entstehen ist, und sei es nur deshalb, weil es den Film gibt, er aus dem hartnäckigen und über Jahre sich erstreckenden Versuch eines einsamen und zugleich kollektiven Unternehmens hervorgegangen ist. Diese Gemeinschaft entsteht in der skizzierten Umgebung eines architektonisch verwandelten, durch den Künstler bereits mit Gestellen veränderten Marktplatzes, dem Ort unvorhersehbarer Begegnungen zwischen sehr verschiedenen Menschen. An den Gestellen hat Syberberg Prospekte mit Fotografien befestigen lassen, auf denen verschwundene Gebäude der am Ende des zweiten Weltkriegs zerstörten Hansestadt zu erkennen sind. Er hat es wohl kaum getan, um die nostalgische und banale, verklärende und fragwürdige Illusion einer guten alten Zeit zu erzeugen, die seit der Naziherrschaft, dem Massenselbstmord der Stadtbewohner und dem brandstiftenden Einzug der Roten Armee endgültig vorbei war, sondern um einen Blick auf Demmin zu werfen, der dessen zerrissene Geschichte so störend sichtbar macht, wie die Gestelle selber es immer bleiben.

Das Entstehen dieser Gemeinschaft begreift Syberberg aber gleichzeitig als eine Versöhnung zwischen Deutschland und Russland, die vor allem über Musik und Film zustande kommen soll. Er montiert Einstellungen aus Alexander Sokurows Faust, Ausschnitte aus dem Konzert, das Valery Gergiev im römischen Amphitheater von Palmyra gegeben hat und in dem Bach gespielt wurde, vor russischen und syrischen Soldaten, und Durchblendungen, in denen sich die Kirche Sankt Bartholomaei und ein weiteres Konzert mit Gergiev durchdringen, nun mit der Musik von Brahms Deutschem Requiem. Während Sokurow von dem politischen Regime in Russland geschmäht wird, musste Gergiev nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine seinen Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker räumen, weil er sich nicht davon distanziert hat.

Der Präsident hat mir für meinen Vorschlag gedankt und ihn abgelehnt. Für öffentliche Diskussionen sei die Zeit nicht gekommen, es fehle an einer Diskussionskultur, er wolle aber die Universität der Künste als experimentellen Ort bewahren, sie sei ja keine Strafanstalt, das Video habe einen einzigartigen Wert, weil es die Intoleranz gegenüber anderen Meinungen plastisch vor Augen führe. Was er mit der einen Hand geben wollte, hat er mit der anderen wieder genommen, durch die Weigerung, die eigene Rede vom experimentellen Ort ernst zu nehmen und ohne lange zu zögern der Universität die Chance zu geben, selber eine Öffentlichkeit herzustellen. Es hätte schiefgehen können, es hätte aber auch einen Eingriff in die Gegenwart möglich gemacht – und was soll die vielbeschworene «Diskussionskultur» sein, wenn nicht ein solcher Eingriff? Am Ende hat es an der Universität der Künste überhaupt keine größere öffentliche Veranstaltung gegeben.

Das Gespenst der Destruktivität

An einem Feiertag im Mai 2024 waren die gewöhnlich offenen Türen zum Universitätsgebäude in der Hardenbergstraße unerwartet verschlossen. Studenten, die in ihre Ateliers gehen und arbeiten wollten, hatten keinen Zutritt. Die Schließung, angeblich aus Furcht vor einer studentischen Besetzung vom Präsidium angeordnet, soll bewusst ohne Vorwarnung erfolgt sein.

Für einen offenen Brief, den der Tagesspiegel nicht drucken wollte und den ich schließlich in mein Buch Kaputt. Essay über Gewalt eingefügt habe, erhielt ich Dank von dem Sekretariat des Präsidenten: Dank für einen Beitrag zum Stimmungsbild. In diesem Brief vom 7. Dezember 2023 habe ich einerseits den Präsidenten aufgefordert, die Stellungnahme zum Massaker der Hamas, die er im Namen aller Fakultäten verfasst und mit einer Fotografie der israelischen Fahne auf die Webseite der Universität gestellt hatte, nicht unverändert zu lassen. Er solle auch die mörderischen Ausmaße der militärischen Offensive der Regierung Netanyahus im Gaza-Streifen anprangern und seine Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zum Ausdruck bringen. Außerdem solle er Studenten, die genau dies getan hatten oder tun wollten, dazu auffordern, öffentlich Stellung zu nehmen, und sei es dadurch, dass sie begründeten, warum sie das Gespräch mit Journalisten verweigerten.

Wenige Monate später hat in einem zunehmend repressiven und autoritären politischen und kulturellen Klima in Deutschland der Präsident davon Abstand genommen, sich ausdrücklich im Namen der Institution, der er vorsteht, hinter jene Kollegen und Kolleginnen zu stellen, die von der BILD Zeitung als vogelfreie, steckbrieflich gesuchte «Universitäter» diffamiert und von der «fassungslosen» Bildungsministerin verdächtigt worden waren, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen – finanzielle Repressalien konnten, so die Ministerin, daraus folgen, die Auszahlung von Forschungsgeldern sollte überprüft werden.

Wir, Mitglieder der Universität der Künste, hatten wie so viele andere Berliner Akademiker einen Brief unterschrieben, um das studentische Recht auf freie Meinungsäußerung an der Universität zu verteidigen, nachdem die Polizei Studenten gewaltsam daran gehindert hatte, auf dem Campus der Freien Universität ein pro-palästinensisches Camp aufzubauen. Während die Leitungen großer Berliner Universitäten, also der Freien Universität, der Humboldt Universität und der Technischen Universität, beschlossen haben, gegen BILD Beschwerde beim Presserat einzulegen, wegen Verunglimpfung, und Kritik an den Äußerungen und dem Vorgehen der Ministerin zu üben, hat sich unser Präsident zurückgehalten. Intern hat er gemeinsam mit willigen Kollegen ein Modell erarbeiten lassen, das es ihm erlauben würde, die massive Erhöhung der Lehramtsstudenten an der Fakultät Bildende Kunst endlich durchzusetzen, um den Preis einer weitgehenden Trennung der Lehramtsstudenten von den Studenten freier Kunst. Es wurde an der Fakultät um Kommentare zur angekündigten Umstrukturierung gebeten, zum «Transformationsprozess». Der olle Gegensatz zwischen dem Konstruktiven und dem Destruktiven, sprich Kritischen, wurde für die Bewertung dieser Kommentare bemüht. Schließlich hat der Präsident trotz eines einstimmigen Votums von Instituts- und Fakultätsrat entschieden, zum ersten Mal in der vorangehenden Dekade zwei Anträge auf Verlängerung der Dienstzeit um ein Jahr über das Pensionsalter hinaus nicht zu bewilligen: meinen Antrag und den Antrag einer befreundeten Kunstprofessorin.

Einen Protestbrief, den eine Mehrheit von Professoren und Professorinnen, von Mittelbauvertretern und Mittelbauvertreterinnen unterzeichnet hat, sowie eine Petition von Studenten, die über vierhundert Unterschriften gesammelt hatte, wurden vom Präsidenten ignoriert, will sagen: mit formalen Argumenten abserviert. Im privaten Gespräch mit der Kollegin, deren Antrag er abgelehnt hatte, sprach er davon, wir seien der Universität unzuträglich, die beantragte Verlängerung sei deshalb nicht im besonderen Interesse der Universität. Im privaten Gespräch mit dem Leiter des Instituts, dem ich nominell zugehöre, sprach er davon, mein Verhalten an der Universität sei zu destruktiv. Ich habe dem Präsidenten einen persönlichen Brief geschrieben. Meine Absicht war, ein mögliches Missverständnis aufzuklären, ihn auf den Unterschied zwischen Kritik und Destruktivität hinzuweisen und ihn daran zu erinnern, dass man meinen beiden philosophischen Lehrern, Adorno und Derrida, immer wieder Destruktivität oder Nihilismus vorgeworfen hat, obwohl es der Kritischen Theorie und der Dekonstruktion um nichts anderes gegangen ist als eine Erziehung zur Mündigkeit und eine Demokratie im Kommen. Der Brief ist unbeantwortet geblieben. Stur, ja starrsinnig hat der Präsident anderen gegenüber wiederholt, nichts könne ihn von seiner souverän getroffenen Entscheidung abbringen. Er hat nicht versucht, ein Gespräch mit mir oder meiner Kollegin zu führen.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob ich froh sei, der englischen Universität rechtzeitig den Rücken zugekehrt und eine verbeamtete Professur in Deutschland erhalten zu haben, möchte ich mit einer Gegenfrage beantworten: Wie mittelmäßig darf, soll, muss ein Universitätspräsident sein? An der Universität der Künste kursiert das Gerücht, die Bewerbungen um die Nachfolge des Präsidenten, der kein zweites Mal kandidieren möchte, seien so enttäuschend, dass man sich überlege, eine neue Bewerbungsfrist zu setzen. Das Gerücht bestätigt sich.

Berlin, 16. August 2024

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