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Studentenbrief aus Deutschland Nr. 4

Lieber Fachbereich,
 wir hoffen, dass Ihr einen schönen Sommer hattet und freuen uns, Euch zur ersten Klassenbesprechung des Wintersemesters 22/23 am 10. Oktober um 13 Uhr in Raum 117 einzuladen.  Hier die Programmpunkte:   

  • Begrüßung der neuen Studentinnen und Studenten in unserer Klasse: Herzlich Willkommen August, Astrid, Binta, Chaerin, Liva, Lennart, Taichi und Zhao. 
  • „Keeping Up With The Trouble“, die Gruppenausstellung, die vom 1. – 3. 7. 2022 im Brut Theater in Wien stattgefunden hat, wird von beteiligten Künstlerinnen und Künstlern des Fachbereichs Abstrakte Malerei vorgestellt. 
  • 10 Minuten Pause
  • Zappy: kurzer Impuls zur neuen Lektüre Winter 22/23
  • Gedicht des Tages (wahrscheinlich von Daniel Falb). Rezitiert von Thomas Winkler.
  • Nachdem schließlich Eure Fragen zu Immatrikulation, Atelierplätze und ECTS-Punkten beantwortet wurden, lädt uns Alexandra Feusi zum Besuch ihrer Ausstellung in der Schönbrunner Strasse 60 ein. Dazu fahren wir gemeinsam 2 Stationen mit der U-Bahn. 
  • Anschließend: Verabschiedung ins nightlife.

Beste Grüße! 

Euer Fachbereich Abstrakte Malerei Michaela, Luisa, Stephan und Thomas 

abstraktekollegentreff.info 

PS: Bitte vergesst nicht, Euch online für das Wintersemester 2022/23 anzumelden! 

(Please use an online translation program for translation. Thank you!)

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Wir empfehlen außerdem die Vorlesung von Diedrich Diederichsen
zum hingehen

Grundbegriffe der Gegenwartskunst

In der Vorlesung wird anhand von (nicht immer ganz antagonistischen) Gegensatzpaaren der Versuch unternommen, Begriffsbildungen und einschlägige Kontroversen der Gegenwartskunst in der Diskussion und in der Anwendung kennnenzulernen. Die Studierenden sollen [nicht] nur die unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Einsätze erfahren, sondern auch in Stand gesetzt [werden], diesen zu widersprechen und sie in diskursive Zusammenhänge und ideologische Formation einzusortieren. Die Bewaffnung und Entwaffnung von und durch Begriffe soll geübt werden; nicht zuletzt, um Alternativen zu erarbeiten.
Die Paare sind, in der Reihenfolge ihres Auftretens: Autonomie und Aktivismus; Ästhetische Erfahrung und Partizipation; Kritik und Repräsentation; Unterbrechung und Immersion; White Cube und Black Box; Lohn, Preis und Profit; Galerien und Festivals; Medien: Technologie und Reproduktion.

Die Studierenden haben die Möglichkeit am Ende des Semesters eine schriftliche Prüfung abzulegen, oder sich als Gesprächspartner_innen für ein Thema zur Verfügung zu stellen. Außerdem werden Protokolle geführt. Die Literaturliste wird in den einzelnen Sitzungen erarbeitet. Empfohlen werden die Überblicksbände zur Begriffsdiskussion: Hubertus Butin, Begriffslexikon der Gegenwartskunst und Nelson/Shiff, Critical Terms For Art History

Beginn: Mittwoch 12.10.2022 10 Uhr
Raum SPMZM13a Mezzanin


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Vom P-Wort. Der Positionsbegriff im Jargon der Kunstkritik

Von Tom Holert

Erschienen in Texte zur Kunst, Heft Nr. 45 / März 2002

Sigmar Polke, "Schimpftuch", 1976

Sigmar Polke, „Schimpftuch“, 1976

Der Begriff der „Position“ scheint eine Art Generalaufhänger für jedwede Art von Kunst geworden zu sein. Es gibt wohl kaum einen Künstler/eine Künstlerin, die/der sich nicht mit diesem Begriff konfrontiert sehen würde oder ihn für sich in Anspruch nähme. Schnellere Subsumtion, kuratorische Wendigkeit und journalistische Handhabung spielen bei diesem Platzhalterwort Hand in Hand. Eine kleine Begriffsanalyse rät dazu, endlich Abstand von ihm zu nehmen.

„Sooner or later the artist is implicated or devoured by politics even without trying. My ‚position‘ is one of sinking into an awareness of global squalor and futility.“

Robert Smithson, 1970 [1]

Seit vielen Jahren ist das Wort eine Lieblingsvokabel der deutschsprachigen Kunstkritik und der Prosa hiesiger Kunstinstitutionen: ‚Position‘. Mal werden „dekonstruktivistische Positionen in Architektur und Kunst“ verhandelt, dann wieder „klassische Positionen wie Hans Arp, André Derain …“ Man „versammelt Positionen“, zum Beispiel: „Positionen zeitgenössischer Kunst aus Berlin“ oder „Positionen des Informel“. Am Ende geht es oft um „vermisste Positionen“, wenn nicht gar um „Positionen zum Ich“. [2]

‚Position‘ ist nicht der einzige Begriff, der sich im Kunstjargon festgesetzt hat und über den nachzudenken sich vielleicht lohnen würde. Vieles könnte man etwa über ‚Strategien‘, ‚Ansätze‘, ‚Situationen‘, ‚Projekte‘, ‚Inszenierungen‘, ‚die Arbeiten von …‘ oder durch Künstler/innen oder Kurator/innen ‚bespielte‘ Räume sagen. Im mehr oder weniger gepflegten Kunstdiskurs aber hat sich besonders die ‚künstlerische Position‘ zu einer Universalfloskel entwickelt, die wohl ihresgleichen sucht. Nicht nur die Hartnäckigkeit, mit der die rhetorische Flucht in die ‚Position‘ angetreten wird, auch die Tatsache, dass es sich offensichtlich um eine Spezialität deutschsprachiger Texte und Gespräche zur Kunst handelt, ist aufschlussreich. Das fällt besonders auf, wenn in entsprechenden englischsprachigen Verlautbarungen von „artistic positions“ geredet wird: Entweder handelt es sich um verzweifelte Übersetzungen einer eigentlich unübersetzbaren Vokabel, oder der englische Text versucht sich auf diesem Weg die Allüre deutscher Kunstprosa-Tiefsinnigkeit (mit einem Schuss Derrida [3]) zuzulegen. [4]

Was eine solche ‚Position‘ alles sein kann, entscheidet sich im Zusammenhang und im Gebrauch. Mit „Unterstützung der Deutschen Städte-Reklame GmbH“ ist es möglich, ‚künstlerische Position‘, Medium und Sponsoreninteresse zu verbinden – einfach, indem man versucht, „auch dem für die künstlerische Position und das gewählte Medium so bedeutsamen Aspekt der Distribution gerecht zu werden“.

Bisweilen ist die ‚künstlerische Position‘ mit der Künstlerin identisch („Wie keine andere künstlerische Position thematisiert Sophie Calle [1953*] in ihrem umfangreichen und vielschichtigen Œuvre die Auflösung traditioneller Vorstellungen von Identität“, findet eine Kunstpreisjury); dann wieder setzt sich die wandelbare ‚Position‘ aus verschiedenen Faktoren zusammen, wie z.B. bei Piero Manzoni, der in „vielen Ansätzen und Formen gearbeitet und seine künstlerische Position immer wieder verändert“ hat. Und Beuys?, will man da fragen: „Beuys stellt durch seine radikale Erweiterung des Kunstbegriffs eine künstlerische Position der Gegenwart dar.“ Zudem lässt sich sagen: „Elvira Bachs künstlerische Position gleicht mittlerweile der einer Institution.“

„Institution“ ist ein gutes Stichwort im Kontext einer Kritik dieses Jargons der ‚Position‘. Wie sich zeigen wird, kündet die Rede von der ‚künstlerischen Position‘ zum einen von einem besonderen Kriteriendruck, der auf denen lastet, die für sich beanspruchen, in angemessenen Phrasen über die Phänomene und Akteure der Kunst zu berichten; zum anderen ist die Rede von der ‚künstlerischen Position‘ das Produkt einer doppelten Bewegung von theoretisch begründeter Kritik an bestimmten Denk- und Herrschaftsmustern und einem gegen ebendiese Kritik gerichteten ideologischen Kalkül.

Dabei spielen die Institutionen des Kunstbetriebs für die begrifflichen Bewegungen und Gebrauchsweisen eine entscheidende Rolle. In ihrem Interesse liegt es, Kategorien wie ‚Position‘, ‚Werk‘, ‚Thema‘ und ‚Künstler‘ kontinuierlich gegeneinander zu verschieben und zueinander in Beziehung zu setzen. Akteure innerhalb der Institutionen (oder diesen angegliedert) sind im Wesentlichen Kurator/innen, Kunsthändler/innen, Sammler/innen, Kritiker/innen und Meta-Künstler/innen [5]. Sie entwerfen und verwalten Strukturen von ‚Positionen‘, die hierarchisch in Hinsicht auf den Erhalt (oder den Gewinn) einer hegemonialen Kunstordnung aufgebaut sind. Um als Künstler-Individuum in diesem Kampf bestehen zu können, muss man sich zur ‚künstlerischen Position‘ vorarbeiten oder sich einer solchen, von anderen definierten ‚Position‘ anschließen. Kunsthochschulen und sonstige Ausbildungsstätten werben mit dem pädagogischen Anspruch, „dass jeder eine eigene künstlerische Position entwickelt und in seiner (…) Arbeit umsetzt.“ In Selbstaussagen angehender Künstler/innen finden sich Formulierungen wie: „In der Möglichkeit, herrschende Auffassungen für mich abzulehnen, habe ich die Fähigkeit gewonnen, mich und meine künstlerische Position zu begreifen und immer wieder neu zu finden. Beides ist nicht voneinander zu trennen.“

Ohne ‚Position‘ wird’s schwer.

Jörg Immendorff, "Wo stehst Du mit Deiner Kunst, Kollege?", 1973

Jörg Immendorff, „Wo stehst Du mit Deiner Kunst, Kollege?“, 1973

1. SEMANTISCHE ERNEUERUNG

Die Verwendung des Ausdrucks ‚künstlerische Position‘ richtet eine kunstterminologische Zone ein, die für Außenstehende nicht ohne weiteres zugänglich ist – so sehr scheint er eine esoterische Spezialität des Sprachspiels deutscher Kunstbetriebsamkeit zu sein. Auf Einverständnis setzend wird ein Kreis von Eingeweihten angesprochen. Aber in der eigentümlichen Weise, wie es im Jargon zirkuliert, findet dieses Formulierungsereignis außerhalb der Zeitschriften, Kataloge und Vortragsveranstaltungen kaum (oder überhaupt nicht?) statt. So zeigte eine Kurzumfrage unter Bekannten, die eher selten mit Kunsttexten in Berührung kommen, wie resonanzarm die Rede von der ‚künstlerischen Position‘ außerhalb des künstlerischen Feldes ist.

Dass die Wahl von Künstler/innen, Kritiker/innen, Kurator/innen, Kunsthistoriker/innen auf das P-Wort fiel, ist nicht allein mit einem Interesse an Aus- oder Abgrenzung zu begründen. Zum einen handelt es sich um die Folge theoretischer Notwendigkeiten. Jeder Text, in dem ‚Positionen‘ auftauchen, verwirft implizit verbrauchte oder falsche Begriffe – oder drückt sich um sie herum. Besonders der Bezug auf das individuelle, auktoriale Künstler/innen-Subjekt wird mit dieser Sprachregelung umgangen. Aber auch benachbarte Begriffe wie ‚Stil‘, ‚Stellung‘ oder ‚Haltung‘ werden zur Disposition gestellt, wobei man mitunter versucht, das Überleben dieser älteren Termini im Umfeld des P-Worts zu sichern, etwa in Titelwort-Kombinationen wie „Positionen – Haltungen – Aktionen“.

Stilbezeichnungen sind in Misskredit geraten, weil man ihnen dogmatische Vereinfachung und Reduktionismus unterstellt. ‚Positionen‘ scheinen ‚präziser‘ (auch so ein Wort …) zu adressieren, was in großräumigen Stilkategorien ansonsten verloren ginge: individuelle Interpretationen eines Stil-Paradigmas, den subjektiven Faktor, das inkommensurable künstlerische Ereignis.

Auch das Wort ‚Haltung‘ wirkt wie ein semantisches Fossil oder zumindest wie eine Idiosynkrasie des deutschen Künstlerdiskurses. In einem Interview mit Georg Baselitz fiel dem US-amerikanischen Kritiker und Kurator Henry Geldzahler auf, der Maler verwende „the word ‚position‘ in a way that I’m not used to.“ Darauf Baselitz: „I mean ‚position‘ in the sense of attitude. An attitude that one assumes on a demonstrative act …“ [6] Noch in den achtziger Jahren rangierte auch unter jüngeren deutschen Künstlern die ‚Haltung‘ noch vor den jeweiligen ‚Arbeiten‘.

Als Person und Werk noch im idealen, existenziellen Einklang gedacht wurden, mag es nahe gelegen haben, eine moralische und ästhetische ‚Position‘ im Künstler/innen-Subjekt zu behaupten. Diese Strategie aber gilt inzwischen als überholt. Die Kritik der Mythen von Autorschaft und Authentizität haben dem Geraune von der individuellen ‚Haltung‘ seine weltanschauliche Grundlage entzogen. Manchmal hallt in ‚Haltung‘ das semantische Geschützfeuer von ‚Engagement‘ und ‚Courage‘ nach, die Vorstellung von jemandem, der kerzengerade einsteht – für eine Sache, für eine Überzeugung, für die Freiheit der Kunst. Aber eigentlich will davon, abseits alkoholisierter Künstlerkneipengespräche, gegen die im Prinzip nichts einzuwenden ist, niemand mehr etwas hören. Zu sehr erinnert der Mythos der ‚Haltung‘ an die Selbstgefälligkeiten, die mit ihrer demonstrativen Zurschaustellung (zu) oft verbunden waren.

‚Position‘ scheint da den Vorzug größerer Neutralität zu besitzen. Das Wort hat einen seiner vielen historischen Ursprünge im Diskurs der Veranstalter von Konkrete-Poesie-Festivals oder gemäßigten Neue-Musik-Avantgardismen der sechziger Jahre. Es klingt ein bisschen wie aus der mathematisch-naturwissenschaftlichen Sprache entlehnt – nüchtern, unsentimental, kybernetisch. Andererseits zeugt eine ‚Position‘ – und hier macht sich eine andere semantische Quelle bemerkbar, nämlich die Sprache von Militärstrategen oder rechten Staatstheoretikern wie Carl Schmitt – auch von kunstevolutionärer Stabilität und Entschiedenheit. Anders gesagt: Dem Gebrauch der Vokabel ist ein gewisser Dezisionismus nicht fremd. Erst wenn ein einzelnes ‚Werk‘ zur ‚Position‘, eine Künstlerin oder ein Künstler zur ‚künstlerischen Position‘ gereift sind, können sie Geltung beanspruchen, haben sie sich auf dem historischen und sozialen Feld der Kunst bewährt.

Künstlerporträts aus: "Deutsche Kunst: eine neue Generation" von Rolf-Gunter Dienst, 1970

Künstlerporträts aus: „Deutsche Kunst: eine neue Generation“ von Rolf-Gunter Dienst, 1970

2. DER IDEOLOGISCHE KNIFF

Dann wieder scheint der ‚Positionen‘-Rhetorik, wenn sie sich nicht der Begriffe von ‚Haltung‘ oder ‚Reife‘ bedient, alles Energische abzugehen. Von ‚künstlerischen Positionen‘ zu sprechen, verrät in solchen Fällen ein eher tastendes Temperament, Gewissenhaftigkeit im Umgang mit den Komplexitäten des Kunstsystems. In diesen Fällen tritt der Begriff als Ausbund an Behutsamkeit und Genauigkeitsbemühung auf, verbreitet das Preziös-Nebulöse der ‚Position‘ und der ‚Positionen‘ in Katalogtexten, Ausstellungseröffnungsansprachen, Kunstmessegesprächen und Feuilletonartikeln das para-philosophische Parfüm des zugleich Distinguierten und Exakten. Aber könnte es sein, dass gerade dieser Eindruck eines vorsichtig-gequälten Bemühens um Genauigkeit auch ein raffinierter ideologischer Kniff ist? Und wenn dem so sein sollte: was verbirgt dieser Kniff?

Die Rede von der ‚künstlerischen Position‘ ist nicht zuletzt ein ideologischer Reflex auf veränderte diskursive und ökonomische Verhältnisse in der Gegenwartskunst.

Als Symptom eines Restrukturierungsprozesses, der das Konzept der Autorschaft aus unterschiedlichen Beweggründen abwertet, hat das positioning system des Verbundes aus Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Kunstkritik besonders im Bereich kuratorialer Entscheidungs- und Planungsprozesse wichtige Navigationsdienste übernommen.

Beispielsweise funktioniert es hervorragend im Interesse einer globalen Ausstellungspraxis, die auf die eine oder andere Weise mit dem Problem der individuellen Künstler/innen-Subjekte zurande kommen muss. Denn diese erweisen sich in der Empirie immer wieder als kompliziert, inkohärent und unkalkulierbar. ‚Künstlerische Positionen‘ hingegen lassen es leichter erscheinen, von realen Personen zu abstrahieren. Nachdem man sich deren empirischer Widerständigkeit entledigt hat, kann man sie umso flexibler miteinander ‚kombinieren‘. Allerdings verschwindet in diesem Prozess die Person mit ihrem Eigennamen nicht restlos hinter der ‚künstlerischen Position‘. Das kann für die institutionellen Akteure auch von Vorteil sein: Im Zweifelsfall, etwa wenn sich die ‚künstlerische Position‘ beim Publikum, bei den Medien oder am Markt nicht verfängt, lässt sich der Mensch in seiner auratischen Einzigartigkeit wieder aktivieren.

Die Steigerung der Verfügbarkeit von individuellen (mitunter auch kollektiven) Produktionen und Produzent/innen im Sinne einer Topografie der ‚Positionen‘ entspricht einem strategischen Denken, das auf den Abbau von Reibungsverlusten und ‚ineffizienten‘ Mustern von Subjektivität setzt. Dieses modulare Verfahren, das sich auf die Passförmigkeit und Anpassungsfähigkeit der reinen Konstruktionen – die ‚künstlerische Positionen‘ ja darstellen – verlässt, ähnelt wirtschaftlichen Konzepten des Outsourcing, der Just-in-time-Produktion, des ‚Humankapitals‘ und der Umwandlung von Angestellten in Sub-Unternehmer. Die Produktion von Kunstereignissen bedient sich im Pool der ‚Positionen‘, und dessen Pegelstände sind um einiges leichter zu kontrollieren als die Psychologien der einzelnen Kulturproduzent/innen. Der zur ‚künstlerischen Position‘ geronnene ‚Autor‘ ist reiner Text. Er lässt sich beliebig um- und fortschreiben.

Künstlerporträts aus: "Deutsche Kunst: eine neue Generation" von Rolf-Gunter Dienst, 1970

Künstlerporträts aus: „Deutsche Kunst: eine neue Generation“ von Rolf-Gunter Dienst, 1970

3. DIE STRUKTURELLE INDIVIDUALITÄT DER ‚KÜNSTLERISCHEN POSITION‘

Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte (was die Angelegenheit erst richtig interessant macht). Die diskursive Erfindung der ‚Position‘, insbesondere der ‚Subjekt-Position‘ und, in weiterführender Präzisierungsanstrengung, der ‚Positionalität‘ (sozusagen das transzendentale Prinzip jeder ‚Positionierung‘) war und ist eine kritische theoretische Maßnahme. Mit ihrer Hilfe sollte die Festlegung von Subjekten auf eine personale oder kulturelle ‚Identität‘ unterlaufen werden. Indem das Konzept der ‚Identität‘ infrage gestellt und an seine Stelle ein anti-objektivistisches Differenzierungsprinzip gesetzt wurde, konnte man auch aufhören, das Subjekt als ein sprechendes Bewusstsein, als den „Autor der Formulierung“ zu behandeln.

Stattdessen war es nun möglich, sich auf eine ‚Position‘ zu konzentrieren, „die unter bestimmten Bedingungen mit indifferenten Individuen gefüllt werden kann“ [7]. ‚Positionen‘ sind damit sowohl Potenziale in einem Möglichkeitsraum als auch bezogen auf die Kartografie dieses Möglichkeitsraums (oder Kräftefelds). Der Name des Autors wird dem Platz zugeteilt, von dem aus das Subjekt spricht. „‚Egal, wer spricht‘, doch was er sagt, sagt er nicht von irgendwo aus. Er ist notwendig in das Spiel einer Äußerlichkeit eingefangen.“ [8]

Dieses „Spiel einer Äußerlichkeit“ ist nicht zuletzt eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um ‚Positionen‘ innerhalb des künstlerischen Feldes. „Alle Positionen hängen in ihrer Existenz selbst und in dem, was sie über ihre Inhaber verhängen, von ihrer aktuellen und potentiellen Situation innerhalb der Struktur (…) der Verteilung der Kapital- (oder Macht-)sorten ab.“ [9] Anders gesagt, „hängt die Positionalität in einem Feld mit Entscheidungs- und Zuschreibungswahrscheinlichkeiten zusammen, ohne sich je absolut aufzudrängen.“ [10] Es ist deshalb zu Recht darauf hingewiesen worden, dass in einem vergleichsweise schwach institutionalisierten gesellschaftlichen Feld wie dem künstlerischen die Eigenschaften der ‚Positions-Inhaber‘ ganz entscheidend für das Profil und die Ausgestaltung der jeweiligen ‚Position‘ verantwortlich sind. [11]

In Reaktion auf dieses relative Gewicht der Individuen, denen eine ‚Position‘ unterstellt wird (oder die eine ‚Position‘ für sich reklamieren), konstruieren die Institutionen des Kunstbetriebs die ‚künstlerische Position‘ gern als eine ihnen zunächst äußerliche Referenz, um sie sodann in ihre eigenen Narrative integrieren zu können. Identifiziert mit einem individuellen ‚Werk‘, einer Gruppe von ‚Arbeiten‘ oder einer kunsthistorischen ‚Situation‘, ist die ‚künstlerische Position‘ in jedem Fall problemlos adressierbar und letztlich auch von ihren individuellen Inhaber/innen isolierbar.

Aber wenn individuelle Merkmale und gesellschaftliche Position in eins fallen, kann es keine ‚Positionalität‘ geben, die das Prinzip der Individualität aufkündigt und stattdessen beispielsweise Formen der Kooperation und Solidarität anstrebt (und gegebenenfalls realisiert). Die ‚künstlerische Positionalität‘ kann dabei sowohl eine gesteigerte Individualität anzeigen, die Herausbildung einer Künstler/innen-Persona etwa, als auch eine lediglich vorgetäuschte Individualität, wenn ‚künstlerische Position‘ lediglich eine von aller Materialität bereinigte Individualität meint.

In beiden Fällen der Behauptung einer ‚künstlerischen Position‘ ist Kollektivität nur in bestimmten Grenzen vorgesehen. Eine Ansammlung individueller ‚Positionen‘ kann zwar eine ‚künstlerische Position‘ ergeben, die von mehreren Individuen geteilt wird. Aber dieses zur ‚Position‘ geronnene Kollektiv ist weniger ein soziales Gefüge als eine Menge von Ambitionen. Diese Menge bewegt sich nur dann oberhalb der Wahrnehmungsschwelle der Kulturökonomie, wenn sie von den Institutionen und ihren Repräsentanten als operationalisierbare Größe anerkannt wird. Nur in der Verwertungslogik kann die ‚künstlerische Position‘ – sei’s des Einzelnen, sei’s der Gruppe – überleben.

Dauerhaft kann man als Künstler/in bestenfalls auf die informellen Gemeinschaften der Boheme zurückgreifen, um die individuelle ‚künstlerische Position‘ zumindest vorübergehend in einer von mehreren geteilten ‚Position‘ aufgehen zu lassen. Und der Vergleich mit der ‚Subjektposition‘, die in Abgrenzung zu (oder Verwerfung von) konkurrierenden Identifizierungen eingenommen oder verfügbar gemacht wird, macht zudem deutlich, dass die ‚künstlerische Position‘ zwar leicht zu einem Objekt der Spekulation und des strategischen Ausschlusses werden kann, aber auch – zumindest theoretisch – Handlungsspielräume eröffnet. Die Spannung besteht zwischen (a) dem Pol, an dem die ‚künstlerische Position‘ im Sinne der Herstellung einer falschen Einheitlichkeit eingesetzt wird, die dabei regulative Funktionen in einer auf Trennung und Entsolidarisierung basierenden Konkurrenzsituation übernimmt, und (b) dem Pol eines ‚politischen‘ Sprachgebrauchs, an dem man sich bewusst ist, dass eine ‚künstlerische Position‘ das (Zwischen-)Ergebnis eines dynamischen Prozesses darstellt und dem von ihr Ausgeschlossenen ebenso verpflichtet sein sollte wie ihrer eigenen vermeintlichen Kohärenz.

So, wie der strukturelle Ort der ‚Subjektposition‘ nicht „vor der von ihr veranlassten Aussage“ existiert, wird auch die ‚künstlerische Position‘ diskursiv erzeugt. Mit anderen Worten: „Zwischen der ‚Position‘ und der ‚Aussage‘ besteht kein Verhältnis radikaler Äußerlichkeit.“ [12] Was aber ist eine „Aussage“, die eine ‚künstlerische Position‘ hervorbringt (und zugleich bestreiten, ja verunmöglichen kann)? Mit welchen diskursiven Mitteln und von welchen gesellschaftlichen und kulturellen Orten aus werden ‚künstlerische Positionen‘ produziert? Diese Fragen werden interessant, wenn man sich bewusst macht, dass ‚künstlerische Positionen‘ nicht allein das Ergebnis von Fremdzuschreibungen, sondern ebenso Gegenstand von Identifizierungen durch die kunstproduzierenden Individuen selbst sind.

4. PLURALE POSITIONEN UND / ODER ZUKÜNFTIGE GEMEINWESEN

Indem die ‚Position‘ theoretisch als Effekt und Funktion einer Feldsituation angesehen werden kann, eröffnen sich vielfältige Gelegenheiten, das Konzept zugunsten einer Redefinition künstlerischer Subjektivität einzusetzen. Aus einer subjektkritischen, feministischen oder postkolonialistischen Perspektive argumentierend, war in den einschlägigen kunsttheoretischen Kontexten von einer „diversity of positionalities“ die Rede, die auch das „spectatorship“ mit einschließt. [13] Die Unmöglichkeit einer einheitlichen, spezialisierten ‚Position‘ ermöglichte es Künstler/innen, das Spektrum der Möglichkeiten der ‚Positionalität‘ auszuschöpfen: „Ich selbst versuche daran zu denken, wie ich zugleich verschiedene Arten von Positionen besetze; als visuelle Produzentin, als Theoretikerin, als Kritikerin, als Betrachterin, als Leserin.“ [14]

Aber so berechtigt und konsequent diese Vervielfältigung professioneller, kultureller, subjektiver, sozialer und anderer Positionen sein mag – sie schaltet die Marktlogik der Nachfrage nach ‚künstlerischen Positionen‘ nicht aus. Diese zielt weniger auf eine angemessene Repräsentation künstlerischer Produktion als darauf, möglichst viel Kapital (in jedem Sinne) aus der Dekonstruktion des Subjekts der Transzendentalphilosophie und der Revision des Autorbegriffs zu schlagen.

Das dazugehörige ideologische Projekt besteht darin, die künstlerische Produktion in höherem Maß verfügbar zu machen. Freilich ohne vollends auf das Prinzip der individuellen Autorschaft zu verzichten, das für die Wertbildungsprozesse der Kultur unverzichtbar ist. Die Kategorie der ‚künstlerischen Position‘ kann – entsprechend definiert und zum Einsatz gebracht – zur Legitimation des besagten Projekts entscheidend beitragen. Ihre ideologisch-diskursive Durchsetzung lockert die Beziehung zwischen Kunstproduzent/in und Kunstproduktion, und sie stattet diejenigen, die von ‚Position‘ statt von ‚Werk‘ reden, überdies mit der Aura theoretischer Beschlagenheit aus. Die kritische Konsequenz dieses Vorgangs ist nicht ohne Perfidie: Sie scheint dazu zu zwingen, das Autorsubjekt zu restaurieren.

Ganz so weit muss man nicht gehen. Aber angesichts der diskursiven Funktionen der ‚künstlerischen Position‘ könnte man dazu aufrufen, die ‚Positionen‘ nicht sich selbst und ihren Nutznießern zu überlassen. Aus der offensichtlichen Unhaltbarkeit der Behauptung einer einzelnen kohärenten ‚Position‘ sollte man eigentlich den Schluss ziehen, fortan sowohl den diskursiven wie ökonomischen Handel mit ‚Positionen‘ zu unterbinden. Denn zum Tauschgegenstand können die ‚Positionen‘ nur werden, weil die pseudoprogressive Verabschiedung der Autorschaft eine Objektivität vorgaukelt, die am Ende einem marktgerechten Relativismus Vorschub leistet.

In Anlehnung an eine andere Diskussion sei deshalb empfohlen, noch einmal die Chancen der Verknüpfung und Verschränkung der ‚Positionen‘ zu prüfen. Nicht im Sinne freier Kombinierbarkeit auf den Reißbrettern des Kuratorentums, sondern als Suche nach Formen, „in denen die Identifizierung in das verwickelt ist, was sie ausschließt“ [15]. Zu zeichnen wäre die „Landkarte eines zukünftigen Gemeinwesens“ [16], in dem ‚künstlerische Positionen‘ weder Autor-Ersatz noch Handelsware sind.

Vielen Dank für Hinweise an Merlin Carpenter, Isabelle Graw und Clemens Krümmel.

ANMERKUNGEN

[1]Robert Smithson, The Collected Writings, hg. von Jack Flam, Berkeley/Los Angeles/ London 1996, S. 134.
[2]Alle vorstehenden und nachfolgenden nicht weiter ausgewiesenen Zitate sind kunstkritischen Texten, Anzeigen für Ausstellungen, Jurybegründungen oder Presseaussendungen der letzten Jahre entnommen.
[3]Vgl. Jacques Derrida, Positions, Paris 1972.
[4]Und Missverständnisse sind nicht ausgeschlossen: Denn eine „artistic position“ bezeichnet normalerweise eine Stellung in der Kreativabteilung eines Unternehmens. Mit der ‚künstlerischen Position‘ des deutschsprachigen Kunstjargons hat das wenig zu schaffen.
[5]Als Meta-Künstler/innen sollen Künstler/innen bezeichnet werden, die in para-kuratorialer Stellung und unter Ausübung einer gewissen Definitionsmacht dazu beitragen, dass Konstellationen einzelner ‚künstlerischer Positionen‘ sich zu einer übergreifenden ‚Position‘ im Kunstgeschehen einer Epoche formieren.
[6]Jeanne Siegel (Hg.), Art Talk. The Early 80s, New York 1988, S. 102.
[7]Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973, S. 167.
[8]Ebd., S. 178.
[9]Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/M. 1999, S. 365.
[10]Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt/M. 2001, S. 532 f.
[11]Vgl. Bourdieu, S. 365 f.
[12]Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/M. 1993, S. 164.
[13]Vgl. Mary Kelly, Imaging Desire, Cambridge, Mass./London 1996, S. 178.
[14]Renée Green, in: A. Read, The Fact of Blackness. Frantz Fanon and Visual Representation, London / Seattle 1996, hier zit. nach: Gen Doy, Materializing Art History, Oxford/New York 1998, S. 243.
[15]Butler, S. 169.
[16]Ebd.
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„Die westliche Entwicklung hat in eine planetarische Krise geführt.“

Wir leben im neuen Erdzeitalter: dem Anthropozän. Doch was bedeutet das in Hinblick auf die Krisen unserer Zeit, von Krieg bis Klimawandel?

Ein Gespräch mit Bernd Scherer, Intendant am HKW, Berlin.

Hanno Hauenstein, 27.5.2022

Sebastian Wells/OSTKREUZBernd Scherer,
Intendant des Hauses der Kulturen der Welt

Die Menschheit befindet sich in einem neuen Erdzeitalter – dem Anthropozän. Doch was heißt das genau? Und was verändert sich dadurch für die Wissensproduktion? Diese Fragen bestimmten die letzten 16 Jahre der Intendanz Bernd Scherers im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). In seinem jüngsten Buch „Der Angriff der Zeichen“ untersucht Scherer unter anderem die Frage, was sich aus der neuen planetarischen Wirklichkeit für ethisches und politisches Handeln ableiten lässt – insbesondere mit Blick auf den Klimawandel. Wir trafen Scherer in seinem Büro im HKW.

Berliner Zeitung: Wann wurde der Begriff des Anthropozäns für Ihre Arbeit zentral?

Bernd Scherer: Das begann 2010/2011, als wir die Neuausrichtung des HKW entwickelten. Anfänglich hatte das Haus die Aufgabe, nicht-europäische Kultur vorzustellen. Das war jedoch obsolet geworden, nach 20 Jahren dessen, was man als „Globalisierung“ bezeichnet. Allein diese geographische Einteilung von Kultur ist bereits problematisch. Aber auch die Idee, Künstler als Repräsentanten ihrer Länder oder Gesellschaften zu verstehen. Die Frage lautete, wie eine Neuausrichtung des HKW im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Die Antwort: Wir brauchten eine Auseinandersetzung mit globalen Prozessen, die unsere Gesellschaften verändern und prägen und ohne die eine Gesellschaft wie die deutsche nicht verstanden werden kann.

Giulia Bruno und Armin Linke für das Haus Der Kulturen Der Welt, Berlin (2020 – 2022)Earth Indices. Processing the Anthropocene

Was für Prozesse meinen Sie?

2009 fand der Klimagipfel in Kopenhagen statt. Der Klimawandel erschien als existentielle Bedrohung sowohl für die europäischen Gesellschaften, wie die Welt als Ganzes. Im Kontext der Recherchen zu dem Thema stieß ich auf die Anthropozänthese von Paul Crutzen.

Was war daran entscheidend für Sie?

Eben, dass Naturwissenschaftler aufgrund der Analyse des Erdsystems sagen: Menschen intervenieren nicht mehr nur in die Natur, verändern sie also etwa nicht mehr nur durch Ackerbau und Tierhaltung. Nein, die Spezies Mensch hat in den letzten Jahrzehnten die Fähigkeit entwickelt, solche Energien freizusetzen, dass sie das Erdsystem selbst aus der Balance bringt. Das ist eine Feststellung von theologischer Dimension.

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In dem Sinn, dass die alte philosophische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur hinfällig geworden ist?

In dem Sinn, dass Menschen die Natur auf eine Weise durchdrungen haben, dass das ganze System aus der Balance gerät. Man kann beobachten, wie grundlegende materielle Kreisläufe wie z.B. der Stickstoffkreislauf wesentlich verändert werden. Durch das Haber-Bosch-Verfahren konnte Stickstoff künstlich gebunden und als Düngemittel, aber auch in der Kriegsführung für Sprengstoff eingesetzt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde in den USA eine Industrie geschaffen, die Stickstoff für die Kriegsführung herstellte. Nach dem Krieg stand dann plötzlich sehr viel künstlich hergestellter Stickstoff zur Verfügung, der Antreiber der sogenannten Grünen Revolution wurde.

Der Krieg bestimmte die Landwirtschaft …

Genau. Klassischerweise benutzten Bauern natürliche Düngemittel. Jetzt konnten sie unbegrenzt Stickstoff einsetzen. Das veränderte auch die Ökonomie. Zum Beispiel mussten Kleinbauern, um am Markt konkurrieren zu können, künstliche Düngemittel einkaufen und wurden so abhängig von den Kapitalmärkten. Darin sieht man, wie die materielle Transformation soziale, ökonomische und natürliche Prozesse beeinflusst. Was für Stickstoff gilt, gilt auch für CO2. Die fossile Energie, sprich die Bindung von Sonnenenergie durch die Erde in Prozessen, die Millionen von Jahren dauerten, wurde über technische Verfahren im 20. Jahrhundert für Mobilität genutzt. Dadurch wurde CO2 in die Atmosphäre freigesetzt, was bekanntlich zum Klimawandel beitrug.

Was genau faszinierte Sie daran?

Die Natur-Kultur-Unterscheidung wurde im philosophischen Bereich ja bereits vor 20, 30 Jahren als falscher Dualismus diskutiert. Jetzt aber stellten auch die Naturwissenschaftler fest, dass diese Trennung eigentlich nicht mehr funktioniert. Westliche Wissensproduktion beruht ja grundlegend auf dieser Trennung. Nun aber sagte die Naturwissenschaft: Was wir bisher als Natur betrachtet haben, wird mehr und mehr vom Menschen produziert. Das hat zur Folge, dass auch die Verfahren, wie Wissen produziert wird, gegenüber den Prozessen, die real stattfinden, nicht mehr angemessen sind.

Sie sagten, die Implikation der Anthropozän-These hätten theologischen Charakter. Was meinen Sie?

Das meint, dass das ganze planetarische System kollabiert und mit ihm unsere Wissenssysteme. Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine neue Gesamterzählung. Die theologische Dimension besteht also darin, dass wir mit Veränderungen konfrontiert sind, die unsere bisherigen Erfahrungs- wie Wissensräume übersteigen. Wir haben bisher kein eigenes Sensorium für die planetarischen Prozesse entwickelt.

Wie sind Sie diese Herausforderung angegangen?

Wir haben versucht, künstlerische, aktivistische und wissenschaftliche Formen der Wissensproduktion in einen neuen Zusammenhang zu bringen, in dem sich diese Probleme adressieren lassen.

In Ihrem Buch schreiben Sie über die „Technosphäre“ – wonach der Mensch nicht mehr Akteur ist, sondern Objekt der anthropozänen Entwicklung wird…

Die treibende Kraft der Moderne war die Idee, dass der Mensch die Natur beherrscht. Teilweise wurde das biblisch abgeleitet, dass der Mensch von Gott eingesetzt worden sei, um die Natur nach seinem Bild zu formen. Ich argumentiere, dass dieses Verständnis dazu führte, die Natur nur als bloße Ressource zu betrachten. In der Antike wurden mit dem Hammer oder dem Spaten körperliche Handlungen technisch erweitert. In dem Moment, wenn Techniken zu Technologien werden, kommt der Logos hinzu. Aus der Bewusstseinswelt der Menschen wurden Gegenstände hergestellt, die die Natur verändern. Man hat dann eben nicht mehr nur einen Spaten, sondern eine Dampfmaschine. Heute existieren ganze Technikbereiche, die von Algorithmen gesteuert werden. Es handelt sich um Bereiche, deren interne Logiken also kaum noch durchschaubar sind, selbst für ihre zentralen Akteure.

Giulia Bruno und Armin Linke für das Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2020 – 2022)Earth Indices. Processing the Anthropocene

Können Sie ein Beispiel nennen?

Man sieht das etwa an algorithmisch organisierten Finanzmärkten. Da kommt es immer wieder zu Zusammenbrüchen, die von Menschen höchstens mittelbar verantwortet werden.

Sie beschreiben, wie der Mensch Objekt einer Entwicklung wird anstatt Subjekt. Das klingt dystopisch. 

Ein Charakteristikum des Anthropozäns besteht darin, dass wir mittels riesiger Infrastrukturen globale Lösungen für lokale Probleme entwickeln und dabei sogenannte „nichtintendierte Nebeneffekte“ aus der Betrachtung ausschließen. Bei der Frage, wie sich etwa durch Atomkraft Energie für die gesamte Menschheit zur Verfügung stellen ließe, wurde die Lagerung des Atommülls als solch ein Nebeneffekt nicht mit berechnet. Ähnliches sehen wir bei künstlichem Dünger. Ammoniak löst Ernährungsprobleme, schafft aber gleichzeitig eine Menge Probleme. Etwa neue ökonomische Abhängigkeiten von Kleinbauern oder die zusätzlichen Nitrate, die das Grundwasser und die Böden kontaminieren. Der Anreiz für globale Lösungen besteht darin, dass sich durch die größeren Absatzmengen die Gewinne in den kapitalistischen Ökonomien erhöht. Die Nebeneffekte, wie zum Beispiel Plastikmüllberge, konnte der Norden lange Zeit in den globalen Süden auslagern. Dies gelingt aber aufgrund der planetarischen Vernetzung nicht mehr. In der anthropozänen Welt gibt es kein Außen mehr. Der Wohlstandsmüll kommt beispielsweise über die Nahrungskette zurück. Aufgrund von Verwüstungen und Überschwemmungen konzentriert sich lebenswertes Leben für immer mehr Menschen auf immer weniger Fläche. Durch diese „nichtintendierten Nebenfolgen“ entsteht eine Welt, der der Mensch als Objekt ausgeliefert ist.

Der Ukraine-Krieg führte uns in den letzten Monaten zahlreiche bestehende Abhängigkeiten vor Augen. 

Genau. Wir sehen, dass die Infrastrukturen, die wir erzeugt haben, Abhängigkeiten erzeugt haben, die nicht innerhalb nur einer Gesellschaft lösbar sind. Wenn wir eine neue Technologie entwickeln, überschauen wir nie wirklich alle Implikationen. Heute gelingt es, neue Technikgenerationen zu erzeugen, die sich in einer Zeitspanne von circa zehn Jahren ablösen. Wir sind mittlerweile also an einem Punkt, wo die Realitätserzeugung sehr viel schneller abläuft als die Wissensprozesse, mit denen wir verstehen, was wir tun. Die Herausforderung lautet: Wie damit umgehen?

KinoHausgemachte Apokalypse: „Die Epoche des Menschen – Das Anthropozän“

Was glauben Sie?

Wenn unser Wissen mit der Realität nicht mithalten kann, stellt sich die Frage, wie wir vermeiden können, Opfer und damit Objekte unserer eigenen Weltherstellung zu werden. Besonders gefährlich sind in dem Kontext Makro-Infrastrukturen wie Öl-, Gas- und Kohleversorgung. Da werden Realitäten erzeugt, die sehr schwer kontrollierbar sind und in der Regel zur gesellschaftlichen Militarisierung führen. Öl wird in dieser Welt zu einer regelrechten Waffe. Wir können heute natürlich nicht in die Vormoderne zurück. Aber was man überlegen könnte, wäre etwa, die Welt in Mikroeinheiten aufzuteilen. Wo einerseits neue Technologien entwickelt werden, die lokale Probleme lösen, und die, falls sie nicht funktionieren, leicht ersetzbar sind, ohne dass gleich die halbe Welt betroffen ist.

Was noch?

Es wäre sinnvoll, dass die Menschen Technologien implementieren, von deren Effekten sie selbst betroffen sind. Ein zentraler Punkt des Anthropozäns ist es, dass die Technologien im Westen entwickelt wurden, die Konsequenzen aber im Süden ankamen. Diese Entkopplung funktioniert heute nicht mehr, wie die Mikroplastik-Problematik zeigt. Es wurde aber dennoch eine extreme Ungleichheit erzeugt. Regionale und lokale Mikroansätze wären besser geeignet, um das Problem der Gerechtigkeit zu lösen.

Die französische Philosophin Corine Pelluchon versucht, die Aufklärung neu zu denken, indem sie sagt, der Mensch müsse nicht nur die Herrschaft über den Menschen beenden, sondern auch die Herrschaft über die Natur. Gehen Ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung?

Es gibt zwei zentrale Probleme mit der Aufklärung. Das eine Problem, das auch in dem neuen Buch von David Wengrow und David Graber eine große Rolle spielt, ist, dass der Menschheitsbegriff auf die westliche Zivilisation bezogen wurde und andere davon ausgeschlossen wurden. Bei John Locke ist die grundlegende Kategorie der Gesellschaft der Besitz. Da waren Ungleichheiten vorprogrammiert. Zentral für das Besitzverständnis von Locke war, dass die Arbeit zum Besitz des Menschen gehört und damit die Bearbeitung des Bodens diesen in den Besitz der betreffenden Person überführt. Auf der Grundlage dieses Besitzbegriffs hatten die indigenen Völker Nordamerikas kein Anrecht auf den Boden, weil sie sich den Boden in den Augen der von Locke geprägten aufklärerischen Gesellschaftstheorie nicht angeeignet hatten. Dies wurde als Argumentation für das koloniale Projekt der Aneignung des Bodens und damit der Ausbeutung indigener Völker benutzt. Gleichzeitig wurde die Natur als Ressource verstanden, die mit der Hilfe rationaler Wissenschaft und der Entwicklung von Technologien ausbeutbar ist.

Giulia Bruno und Armin Linke für das Haus Der Kulturen Der Welt, Berlin (2020 – 2022) (A. Borsato)Earth Indices. Processing the Anthropocene

Sie leiten das HKW seit circa 16 Jahren. Was ist für Sie Ihr wichtigstes Vermächtnis?

Wir haben von Anfang an zwei Linien verfolgt. Einerseits die Frage der Solidarität mit anderen Gesellschaften. Uns war wichtig, Stimmen, die bisher ausgeschlossen waren, Gehör zu verschaffen. Damit eng verbunden war das Anthropozän-Projekt. Es sollte deutlich machen, dass die westliche Entwicklung als eine gesehen werden muss, die uns in eine planetarische Krise geführt hat. Dies bedeutet, dass die westlichen Institutionen nicht mehr als Referenzen benutzt werden können, um Entwicklungen des globalen Südens zu bewerten, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, gemeinsam mit Akteuren des globalen Südens neue Institutionen wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion zu entwickeln.

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Inwiefern hat sich Ihr eigener Blick verändert?

In meiner philosophischen Ausbildung spielte der amerikanische Pragmatismus eine grundlegende Rolle, aber auch die Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der Antike. Es ging dabei immer auch darum, den Bezugsrahmen des eigenen Denkens infrage zu stellen. Heute ist es eine Frage des Überlebens, unsere Gesellschaften und unser Denken unter Einbezug derjenigen, die bisher ausgeschlossen waren, neu zu bestimmen und unsere Beziehung zur Erde und den materiellen Prozessen, deren Teil wir sind, neu zu gestalten.

Das HKW wurde 1989, zeitgleich mit dem Ende der DDR, als Bildungsinstitution gegründet.

Genau, wobei damals noch vom „Ende der Geschichte“ geschwärmt wurde, eine Formulierung, die den Primat des westlichen Wohlstandsmodells festzuschreiben versuchte. Die damalige Randlage im Tiergarten wurde allerdings zu einem Vorteil, weil sie einen ganz anderen Blick auf jenen westlichen Referenzrahmen zuließ.

Das betrifft im HKW bekanntlich immer auch die ästhetischen Formen.

Richtig, weil wir festgestellt haben, dass die Wissensproduktion in den bisherigen Disziplinen nicht mehr in der Form funktioniert, in der sie über zweihundert Jahre operierte. In den neuen Formen der Wissensproduktion spielt die ästhetische Dimension eine grundlegende Rolle, da es darum geht, die Welt neu sehen zu lernen, neue Zusammenhänge zu erkennen.

Wir beobachten seit Jahren eine sich verschärfende Klimakrise und zunehmenden Rechtspopulismus. Wie prägt das Ihre Arbeit konkret?

Die Klimakrise ist eine planetarische Krise. Im Ukraine-Krieg manifestiert sich mit dem Aspekt der Energieversorgung aus Russland gerade nur ein Aspekt dieser Krise. Aber die Verseuchung und der Klimawandel gehen ja immer weiter. Seit zehn bis fünfzehn Jahren haben wir eine verstärkte ökologische Diskussion, und dennoch werden im Autobereich immer mehr SUVs produziert. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann Wissen in gesellschaftliches Handeln übersetzt werden?

Was glauben Sie?

Ich glaube, wir müssen die Logiken aufzeigen, die zu der Krise geführt haben. Das habe ich in meinem Buch versucht. Der nächste Schritt wäre, zu fragen, wie wir weiterkommen. Ein Vorschlag ist, von faktenbasiertem Wissen zu prozessualem Wissen überzugehen. Das würde bedeuten, dass die Fakten einfach immer weiter überarbeitet werden können. Wenn man Wissen in dieser Form versteht, muss man eine Welterzeugung herstellen, die es erlaubt, dass man immer wieder umbauen kann. Unser ganzes Mobilitätssystem – etwa die Autobahn – ist darauf ausgelegt, mindestens 100 Jahre zu halten. Das sind heute inadäquate Strukturen.

Sie sprechen in Ihrem Buch oft über Denkbilder, wie sie in der Kritischen Theorie eine zentrale Rolle spielen. Wie könnte man den Anthropozän-Prozess in einem Denkbild fassen?

An einer Stelle im Buch spreche ich über den Engel der Geschichte von Paul Klee. Das ist ein interessanter Fall, weil er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, aber doch sehr gut die anthropozäne Situation beschreibt. Unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird darin auf den Kopf gestellt. Klassischerweise denken wir ja, die Vergangenheit liege hinter uns und die Zukunft vor uns. Aber was vor dem Engel liegt, ist das Trümmerfeld. Ähnlich liegt der Atommüll vor uns, nicht hinter uns, er verbaut unsere Zukunft. Wir können nicht so tun, als könnten wir einfach von vorne anfangen. Ein anderes Bild wäre das Goya-Bild, in dem Saturn seine Kinder frisst, was dafür steht, dass die Zeit sich selbst auffrisst. Das ist auch eine Erfahrung unserer Gegenwart: Es scheint so, dass wir immer schneller laufen müssen, um auf der Stelle zu bleiben. Burn-Out ist eine Folge davon.

Sie verbinden in Ihrem Buch Ökologie, Naturwissenschaft, Politik, Agrarwirtschaft. Planen Sie, in diese Richtung weiterzuarbeiten?

Was ich in meinem Buch versuche, ist eine Re-Materialisierung geistiger Prozesse zu schaffen. Ich versuche zu zeigen, wie die technologischen Prozesse in Machtasymmetrien verankert sind. Wichtig wäre jetzt, das Verhältnis des postkolonialen Diskurses, also die Perspektive derer, die lange ausgeschlossen waren, zu verbinden mit einer kritischen westlichen Reflexion jener Prozesse. Das zweite wäre, zu überlegen, was neue Denk- und Handlungsmuster sein könnten. Wie Realitätserzeugung in Zukunft aussehen kann.

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Jüngst hat das Programm „Earth Indices“ im HKW begonnen, das über mehrere Monate laufen wird. Worum geht es?

In der Ausstellung geht es darum, aufzuzeigen, wie ein Erdzeitalter hergestellt wird. Also, wie Wissenschaftler die Erde lesen. In den Medien bekommen wir in der Regel immer nur die Ergebnisse präsentiert. Hier wird der Forschungsprozess zur Darstellung gebracht, damit wir verstehen, welche Prozesse eine Rolle spielen. Die von Katrin Klingan kurierte Konferenz „Unearthing The Present“ zeigte jüngst auf, welche Konsequenzen diese Forschung hat.

Sie verschränken also die Herangehensweisen mit den Konsequenzen in der Zukunft.

Nicht nur in der Zukunft, auch in der Gegenwart. Der Grundgedanke des Programms ist, dass das, was physische Realität ist, seit dem 19. Jahrhundert immer mehr durch die Naturwissenschaften definiert wurde. Normale Menschen wissen oft aber gar nicht, wie Wissenschaftler zu ihren Ergebnissen gelangen. Diese Prozesse wollen wir offenlegen, um sie auch gesellschaftlich verhandelbar zu machen.

Bernd Scherer: Der Angriff der Zeichen – Denkbilder und Handlungsmuster des Anthropozäns, Matthes & Seitz, Berlin 2022. 223 Seiten, 28 Euro.

Die Reihe Earth Indices im HKW läuft noch bis Mitte Oktober. Das genauere Programm finden Sie unter www.hkw.de – an diesem Wochenende findet im HKW die Konferenz „Die Zivilisationsfrage“ statt, unter anderem mit dem im Interview erwähnten Autor David Wengrow.

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Satanismus

Struktur / structure

 Irwin Navigator: Retroprincip 1983-2003 

Inke Arns 

Am 6. Juni 1992 fand in Moskau auf Initiative der slowenischen Gruppe Irwin (NSK) und des amerikanischen Filmregisseurs Michael Benson im Rahmen der NSK Embassy Moscow1 eine Aktion russischer und ex-jugoslawischer KünstlerInnen und TheoretikerInnen statt: Gemein-sam breiteten sie auf dem Roten Platz vor dem Kreml ein 22 x 22 Meter großes Quadrat aus schwarzem Stoff aus (Black Square on Red Square). Von dieser Aktion existieren außer ein paar Videoaufnahmen und Fotografien weder ein Konzept, noch gibt es, wie bei der russi-schen Gruppe Kollektive Aktionen, systematische Berichte der Teilnehmer und Teilnehme-rinnen. Nur in den in der Dokumentation der NSK Embassy Moscow veröffentlichten Beiträ-gen von Michael Benson und Natal’ja Abalakova wird beiläufig von der Aktion berichtet, an der insgesamt 60-70 Leute beteiligt waren. Unbeteiligte Zuschauer auf dem Roten Platz wur-den zu Akteuren, indem sie den ca. 25 Teilnehmern spontan beim Ausbreiten des Stoffes hal-fen: „Das Schwarze Quadrat, das für den schnellen Transport vom Bus dorthin zunächst wie ein Leichentuch aufgerollt war, wird von zahllosen Händen in drehender Bewegung im Uhr-zeigersinn geöffnet. In der Mitte des Roten Platzes ausgebreitet, wirkt es so, wie Malewitsch es zuerst entworfen hatte: Es ist unergründlich, hat Ausstrahlung und besitzt eine unerklärli-che Macht. Hunderte von Menschen, die sich an seinem Rand sammeln, definieren diesen suprematistischen Archetyp. Sie sehen aus ‚wie ein Haufen Ameisen um einen riesigen Zu-ckerwürfel herum’, wie der Kameramann Ubald Trnkoczy bemerkt.“

Ziel dieser Ausbreitung des Schwarzen Quadrates im Zentrum der (ideologischen) Macht war die Konfrontation eines ideologischen Systems mit einem in seiner Totalität ebenbürtigen, jedoch nicht ideologischen, sondern explizit künstlerischen System. Dies wird im Titel der Aktion durch die – wohl nur in der englischen Sprache mögliche – Parallelisierung von „Black Square“ und „Red Square“ deutlich. Diese Konfrontation auf dem Roten Platz mit seiner langen Geschichte der Staatsbegräbnisse und Militärparaden war, wie verschiedene Quellen berichten, für alle Teilnehmer ein sehr bewegendes Moment. Entgegen der Annahme, dass die Miliz umgehend eingreifen und die Aktion abbrechen würde, hielten sich die auf dem Roten Platz anwesenden Milizionäre im Hintergrund: „Die Apt-Art-Kuratorin Elena Kurl-jandceva hat Tränen in den Augen. Sie zeigt auf einen Mann der Miliz. ‚Sprecht mit ihm’, sagt sie. ‚Jetzt kann ich endlich glauben, dass die Dinge sich wirklich geändert haben.’ Der uniformierte Beamte ist nicht zu unterscheiden von den Legionären, die einst die Moskauer Botschaften der westlichen Länder abschirmten. ‚Es ist ein schwarzes Quadrat, ein Gemälde’, erklärt er. ‚Ich verstehe dieses Werk nicht – aber ich sehe auch nicht, was daran verkehrt sein sollte.’ Als er zum Balkan befragt wird, sieht er finster aus. ‚Meine Frau und ich machen uns Sorgen um Jugoslawien’, sagt er langsam. ‚Wir sehen uns das jeden Abend im Fernsehen an. Dort sterben Frauen und Kinder … Gott sei Dank passiert so etwas hier nicht.’“

Als die Gruppe Rrose Irwin Sélavy 1983 gegründet wurde, waren ihre Mitglieder Dušan Mandič, Miran Mohar, Andrej Savski, Roman Uranjek und Borut Vogelnik zwischen 22 und 

1 Die NSK Botschaft war Teil des internationalen Apt-Art-Projektes, das 1991-1992 von Viktor Misiano, Lena Kurljandceva und Konstantin Zvezdočetov in Moskau organisiert und durchgeführt wurde. 

2 Michael Benson, The Future is Now, in: Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow. How the East Sees the East. Koper, o.J. [1992/93], S. 80-88, hier S. 85. 

3 Benson o.J. [1992/1993], S. 86. Da die Aktion nicht von der Miliz abgebrochen wurde, packten die Teilnehmer das Stoffquadrat nach 20 Minuten wieder ein und fuhren mit dem Bus weg. 2 

29 Jahre alt. Sie kamen aus der Punk- und Graffiti-Szene Ljubljanas.4 Der Gruppenname, der sich offensichtlich auf Marcel Duchamp5 bezog, und dessen typischer Schriftzug laut Irwin von einem Uhrmacher gleichen Namens aus Cincinnati stammte, wurde bald zu R Irwin S verkürzt – und schließlich 1984, nach Gründung der Neuen Slowenischen Kunst (NSK), zu Irwin. Das erste Projekt, das die Gruppe Anfang 1984 noch unter dem Namen R Irwin S reali-sierte, hatte den Titel Back to the USA und bestand aus einer vollständigen Rekonstruktion (manche würden sagen: Kopie) der zu dieser Zeit unter gleichem Titel durch Westeuropa tou-renden Gruppenausstellung US-amerikanischer Künstler. Zwar besaß dieses Projekt noch nicht die Formensprache, die für Irwin wenig später typisch werden sollte. Allerdings, und das macht diese Projekt so überaus wichtig, nahm es gleichermaßen in einem Handstreich die für die Arbeit der Gruppe Irwin zentrale radikale Kopierstrategie vorweg. 

Das Malerkollektiv Irwin kann mittlerweile auf ein 20-jähriges Oeuvre zurückblicken.6 Zu-sammen mit der Musikgruppe Laibach bzw. Laibach Kunst (*1980), dem Theater der Schwestern Scipio Nasicas (*1983, heute: Kosmokinetisches Kabinett Noordung) und der Designabteilung Neuer Kollektivismus (NK) ist sie eine der Hauptgruppen des 1984 gegrün-deten Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK).

Wie auch die anderen Gruppen ist Irwin – als Abteilung für bildende Kunst der NSK – dem sogenannten „Retroprinzip“ verpflichtet. Dieses Retroprinzip ist „kein Stil oder ein Kunst-trend, sondern vielmehr ein Denkprinzip, eine bestimmte Verhaltens- und Handlungsweise”,8 das manchmal auch „Arbeitsmethode“9 genannt wird. Es bezeichnet eine paradoxe Vorwärts-bewegung in die Zukunft, die sich ausschließlich unter Rückgriff auf die Vergangenheit voll-zieht. Konkret heißt das, dass die in den 1980er Jahren entwickelte Bildsprache des Malerkol-lektivs neben der Übernahme vieler Bildmontagen von Laibach Kunst ausnahmslos aus Zita-ten aus der west- und osteuropäischen Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts besteht. Irwin benutzt Motive des Sozialistischen Realismus und der Kunst des Dritten Reiches, Motive aus der Kunst der verschiedenen europäischen, explizit politisch engagierten Avantgardebewe-gungen (italienischer Futurismus, sowjetrussischer Konstruktivismus) sowie Motive aus der slowenischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Neben religiösen Zitaten übernimmt Irwin die von Laibach Kunst eingeführte leitmotivische Verwendung der Motive des Adlers, des Hirsches, des Sämanns sowie des schwarzen Kreuzes des russischen Suprematisten Kasimir Male-witsch. All diese Zitate unterschiedlichster Provenienz fügt die Gruppe in ihren in traditionel-ler Technik gemalten und mit schweren Rahmen versehenen Ölgemälden zu komplexen und vielschichtigen Montagen zusammen. 

Zur Ausstellung 

Irwin: Retroprincip 1983-2003 markiert das 20-jährige Bestehen der Gruppe Irwin und ist gleichzeitig die erste große Einzelausstellung der Gruppe in Berlin, 15 Jahre nach ihrer ersten Ausstellung in Deutschland in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf Anfang 1989. Die Aus- 

4 Vgl. dazu Aleš Erjavec/Marina Gržinić, Ljubljana, Ljubljana. The Eighties in Slovene Art and Culture, Ljubl-jana 1991 sowie 75’85. Do roba in naprej. Slovenska umetnost 1975-85, Kat. Moderna galerija, Ljubljana 2003. 

5 Marcel Duchamp benutzte seit 1920 „Rrose Sélavy“ („Rose – c’est la vie“) als eines seiner weiblichen Pseudo-nyme. 

6 Ausführlich zu Irwin vgl. in diesem Katalog: Inke Arns, Irwin (NSK) 1983-2003: Kunstgeschichte als Fiktion. Von Was ist Kunst? über Kapital zum ‚Östlichen Modernismus’. 

7 Zur NSK vgl. in diesem Katalog Inke Arns, Mobile Staaten / Bewegliche Grenzen / Wandernde Einheiten: Das slowenische Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK). 

8 Vgl. das Manifest „Retroprincip“ von 1984 in diesem Katalog. 

9 Irwin, The Program of the Irwin Group (1984), in: NSK 1991, S. 114; zuerst erschienen in: Problemi , Nr. 6, Ljubljana (1985), S. 54 3 

stellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 versammelt die wichtigsten Werkkomplexe von Irwin und ermöglicht so – gerade in ihrer Zusammenschau von Projekten der 1980er, 1990er und 2000er Jahre, die durch ein Film- und Videoprogramm zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst ergänzt werden10 – eine umfassende Darstellung eines wandlungsreichen und thema-tisch hochkomplexen Gesamtwerkes. Sie ist damit nicht nur für Berlin, sondern deutschland- und europaweit eine Premiere. 

Seit 1983 setzt sich die Gruppe Irwin in ihren künstlerischen Projekten umfassend mit der Kunstgeschichte Osteuropas auseinander, speziell mit dem ambivalenten Erbe der histori-schen (russischen, aber auch südslawischen) Avantgarde und ihren totalitären Nachfolgern, also mit der Dialektik von Avantgarde und Totalitarismus. Nach der Erarbeitung einer eige-nen Bildsprache in ihren Appropriations-Projekten der 1980er Jahre11 konzentriert sich die Gruppe seit den 1990er Jahren auf die kritische Hinterfragung der Kunstgeschichte des ‚west-lichen Modernismus‘. Diesem stellen sie mit der ‚Retroavantgarde‘ einen fiktiven ‚östlichen Modernismus‘ gegenüber, der durch seine eigene offensichtliche Konstruiertheit auf die Kon-struiertheit westlicher Schemata der Kunstgeschichte verweist, von denen zeitgenössische Kunst aus Osteuropa nach wie vor ausgeschlossen bleibt. Ziel eines der neuen Projekte von Irwin ist es daher auch, eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwi-schen 1945 und 2002 anzuregen, und zwar jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung‘ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen (East Art Map, 2002). 

Während Irwin in den letzten zehn Jahren international sehr präsent war, ist die Gruppe in Deutschland neben Galerie-Ausstellungen (Inge Baecker, Köln) und einigen Ausstellungsbe-teiligungen12 noch nie in einer größeren, die letzten 20 Jahre umfassenden Einzelausstellung präsentiert worden. Seit der Anfang 1989 von Jürgen Harten kuratierten Ausstellung Ir-win/Neue Slowenische Kunst in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf13 sind 15 Jahre ver-gangen, in denen die Gruppe Irwin – nicht zuletzt angeregt durch die politischen Veränderun-gen und Verwerfungen seit 1989 – ihre Konzepte der 1980er Jahre (‚Retrogarde‘, ‚Überidenti-fizierung‘) überarbeitet und wichtige Projekte und neue Konzepte für die 1990er und 2000er Jahre entwickelt hat. Hier sind besonders der 1991 gegründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) mit seinen temporären Botschaften (u.a. 1992 in Moskau), das 1996 durchgeführte Transnacionala-Projekt, die Initiierung der East Art Map (2002) sowie Irwins langjähriges Engagement für die Einrichtung von Sammlungen osteuropäischer Kunst auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (aktuell: ArtEast 2000+ Collection, Moderna galerija, Ljubljana) zu nennen. Diese Projekte haben durchweg zum Ziel, eine Auseinandersetzung des Ostens bzw. Osteuropas mit sich selbst zu initiieren – treffender Weise hat Irwin die Dokumentation der NSK Embassy Moscow (1992) mit „How the East Sees the East“ untertitelt. Es ist dieser Blick auf die eigene (osteuropäische) Kunstgeschichte, der Irwin so spannend macht – gerade auch im Kontext der in Berlin parallel stattfindenden Ausstellung Berlin Moskau, Moskau Ber-lin 1950 2000. Nach der Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien in Berlin wandert die Aus-stellung weiter in das Karl Ernst Osthaus-Museum nach Hagen und anschließend in das Mu-seum of Contemporary Art in Belgrad. 

10 Goran Gajić, Pobjeda pod Suncem (Sieg unter der Sonne, 60 min., 1987); Marina Gržinić / Aina Šmid, Tran-scentrala – NSK Država v času (20:05 min., 1993); Peter Vezjak/Retrovizija (NSK), Bravo – Laibach in Film (53 min., 1993); Michael Benson, Predictions of Fire (95 min., 1995); Marina Gržinić / Aina Šmid, Postsocialism + Retroavantgarda + Irwin (22:05 min., 1997). 

11 Vgl. Inke Arns, Neue Slowenische Kunst (NSK) – eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien, Regensburg 2002. 

12 z.B. unfrieden, Hamburg 1996; After the Wall, Stockholm/Berlin 1999/2000; Vulgata – Kunst aus Slowenien, Berlin 2001; Museutopia, Hagen 2002. 

13 Übernahme aus dem Centre National des Arts Plastiques, Paris. 4 

Irwin Navigator: Katalogbuch und Anthologie 

Das Katalogbuch, das anlässlich der Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 erscheint, hat mehrere Ziele. Es versammelt, erstens, die wichtigsten Artikel und Texte, die in den letzten fünfzehn Jahren zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst geschrieben worden sind. Eine solche Zusammenstellung erschien sinnvoll, da viele dieser Texte und Artikel verstreut in Katalogen, Zeitschriften oder Büchern erschienen sind, die heute teilweise vergriffen oder gar nicht mehr verfügbar sind. Zweitens macht das vorliegende Katalogbuch durch seine konse-quente Zweisprachigkeit viele Texte zum ersten Mal in deutscher bzw. in einigen Fällen in englischer Übersetzung zugänglich. Und drittens bietet es dem Leser bzw. der Leserin durch seine thematischen Unterteilungen, die im April 2003 gemeinsam mit Irwin in Ljubljana erar-beitet wurden, rote Fäden durch das komplexe Gesamtwerk der Gruppe. Anhand dieser vier übergreifenden Themenkomplexe – „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrogra-der pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“ – kann in der vorliegenden Publikation verfolgt werden, wie sich die verschiedenen thematischen Schwer-punkte innerhalb der Arbeit von Irwin im Laufe der Zeit verändern, eine Erweiterung erfahren oder in ganz neuen Kontexten wichtig werden.14 

Den einzelnen thematischen Clustern des Kataloges sind sowohl Texte und Aufsätze ver-schiedener Autoren, Manifeste der Gruppe Irwin als auch Werkgruppen der Künstler zuge-ordnet. Die Texte sind dabei so angeordnet, dass die Kapitel jeweils mit den zeitlich jüngsten, teils speziell für die aktuelle Ausstellung geschriebenen Texten beginnen (Daniel Spanke, Gregor Podnar) und mit den ältesten enden. Texte, Manifeste und Werke sind außerdem durch hypertextuelle Links verbunden, die – trotz der linearen Organisation des Mediums Buch – non-lineare Lesarten von Irwins Oeuvre ermöglichen. Diese hypertextuelle Verlinkung mit anderen Texten, Arbeiten oder Kontexten ergab sich aus der Einsicht, dass sich einzelne Ar-beiten nur schwer auf ein einziges Thema beschränken lassen. 

Das Katalogbuch ist, wie bereits erwähnt, in vier thematische Kapitel aufgeteilt: „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrograder pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“. An das vierte Kapitel schließt sich ein weiterer Teil mit sechs Interviews an, die verschiedene AutorInnen zwischen 1988 und 2000 mit Irwin geführt haben. Eine ausführliche Bio- und Bibliographie zu Irwin sowie Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren und ein Quellennachweis der in dieser Anthologie enthaltenen Texte schließen die Publikation ab. 

Destruktion und Konstruktion (Ideologie) 

Das erste übergreifende Kapitel beleuchtet vor allem die gesellschaftskritischen Aspekte, die die Gruppe Irwin mit dem Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) – und hier ins-besondere mit der Gruppe Laibach und der Designabteilung Neuer Kollektivismus – verbin-den. Destruktion (oder Kritik) gab und gibt sich bei Irwin und der NSK immer als Konstrukti-on (oder Affirmation), und Affirmation entpuppt sich als schwer zu überbietende Kritik des Systems und seiner Ideologie. In den 1980er Jahren äußerte sich die Taktik der Neuen Slowe-nischen Kunst weder in einem offen kritisierenden Diskurs gegenüber dem Staat und der I-deologie noch in der Distanzierung zur Ideologie durch ironische Negation (Stichwort Dissi-denz). Es ging im Gegenteil um eine Wiederholung, um eine Aneignung von Bestandteilen 

14 Die Ausstellung selber folgt nicht den vier übergreifenden Themenkomplexen des Kataloges, sondern kon-zentriert sich auf die Präsentation der wichtigsten Werkkomplexe der Gruppe. 5 

und Versatzstücken der offiziellen Ideologie, um ein Spiel mit diesen ‚ready mades’, um ein Aufnehmen vorhandener Herrschaftscodes, um – so Laibach – „diesen Sprachen mit ihnen selber [zu] antworten.“15 Es handelte sich um eine subversive Strategie, die der slowenische Philosoph und Lacanier Slavoj Žižek als radikale „Überidentifizierung“16 mit der ‚verdeckten Kehrseite’ der die gesellschaftlichen Beziehungen regulierenden Ideologie bezeichnet hat. Die NSK trat – unter Verwendung aller durch die offizielle Ideologie explizit und implizit vorge-gebenen Identifikationsmomente – als eine Organisation auf, die noch „totaler als der Totali-tarismus“ (Boris Groys) zu sein schien – ein provokativer Verweis auf das politische System Jugoslawiens.17 

Ein gutes Beispiel für diese Art von „subversiver Affirmation“, also für eine Taktik, die es erlaubt, an bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Diskursen teilzunehmen, diese zu bestätigen, sie sich anzueignen oder zu konsumieren und dabei gleichzeitig zu unterwan-dern,18 ist der sogenannte Poster-Skandal. Der Neue Kollektivismus (NK), die Designabtei-lung der NSK, löste 1986/87 einen – international beachteten – Skandal aus, als er für den Tag der Jugend (Dan Mladosti), der alljährlich an Titos Geburtstag begangen wurde, ein auf einem Nazi-Plakat basierendes Poster zum Wettbewerb einreichte und dieses von einem hochoffiziellen all-jugoslawischen Komitee – ihm gehörten Vertreter des Bundes der sozialis-tischen Jugend Jugoslawiens, der jugoslawischen Volksarmee und des Bundes der Kommu-nisten Jugoslawiens an – prompt mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Das Plakat des NK bestand aus einer leicht veränderten Version des Bildes Das dritte Reich. Allegorie des Heldentums (1936) von Richard Klein und zeigte einen mit Stafette, jugoslawischer Fahne und anderen Staatsinsignien ausgerüsteten, siegesgewiss in die Zukunft schreitenden Jüngling. Das Komitee lobte das Poster des Neuen Kollektivismus und begründete die Preisvergabe damit, dass der Entwurf „die höchsten Ideale des Jugoslawischen Staates ausdrückt.“19 Umso peinlicher, dass nach Aufdeckung der Bildquelle die jugoslawischen Bundesbehörden einen politischen Prozess wegen „Verbreitung faschistischer Propaganda“ gegen den NK anzustren-gen versuchten, der aber von den slowenischen Behörden abgewendet werden konnte (hier zeigten sich bereits Unstimmigkeiten zwischen der [zunehmend illiberalen] jugoslawischen Bundesebene und der [liberaleren] slowenischen Republikebene, die gegen Ende der 1980er Jahre schließlich auch zu einem faktischen Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderati-on führen sollten). Die slowenische Kunsthistorikerin Lilijana Stepančič nimmt in ihrem Bei-trag eine ausführliche Analyse des Poster-Skandals vor, in dessen Folge der Tag der Jugend abgeschafft wurde. 

Meint man jedoch nun, dass sich Irwin und die NSK an tagespolitischen Ereignissen abgear-beitet hätten, wäre dies gewiss ein ganz falscher Eindruck. Irwin/NSK haben immer wieder betont, dass es ihnen nicht so sehr um eine Kritik des Bestehenden ging, sondern dass ihnen primär der Aufbau und die Konstruktion von etwas Eigenem wichtig war (was natürlich eine durchaus komplexe Kritik der Verhältnisse darstellt). Schließlich, so ließen die Mitglieder von Irwin in den 1980er Jahren nicht nur einmal verlauten, seien sie keine Dissidenten, sondern „Staatskünstler“. Dieses ostentativ zur Schau gestellte Desinteresse an einer direkten Kritik 

15 Laibach, zit. nach: Claudia Wahjudi, Zwölf Jahre musikalische Zitatenschlacht zwischen zwei konträren Sys-temen. Interview mit ‚Laibach’, in: Neues Deutschland, 13.8.1992. 

16 Slavoj Žižek, Why are Laibach and NSK not Fascists?, in: M’ARS – Časopis Moderne Galerije V/3.4 (1993), S. 4. 

17 Vgl. Alenka Barber-Kersovan, ‚Laibach’ und sein postmodernes ‚Gesamtkunstwerk’, in: Helmut Rösing (Hg.), Spektakel / Happening / Performance. Rockmusik als ‚Gesamtkunstwerk‘, Mainz 1993, S. 66-80. 

18 Vgl. ausführlich dazu Inke Arns/Sylvia Sasse, Affirmation und Widerstand, 2004 [in Vorbereitung]. 

19 Vgl. The Economist, London, 14. März 1987, S. 49 und Profil, Wien, 13. April 1987, S. 56, zit. nach: Pedro Ramet, “Yugoslavia 1987: Stirrings from Below”, in: The South Slav Journal, Vol. 10, Nr. 3, Jg. 37 (Herbst 1987), S. 34. 6 

der politischen Situation der 1980er Jahre hat in den Organigrammen, also den internen Auf-bau- und Funktionsschemata von Laibach Kunst bzw. der NSK (1984) eine ästhetische Form angenommen. Die Gruppen Irwin und NSK begriffen sich nämlich in den 1980er und 1990er Jahren als explizit staatsähnliche soziale Gefüge, die einen Ausgleich für das Fehlen eines Kontextes darstellten. Dies wird besonders deutlich in der für die Ausstellung neu erarbeiteten Installation Retroprinciple (2003), in der die Gruppe Irwin ihre Projekte der 1990er Jahre un-ter dem Motto „Konstruktion des Kontextes“ subsumiert. 

Parallel zur Unabhängigkeitserklärung Sloweniens erfolgte 1991 die Gründung des NSK Staa-tes in der Zeit. Dabei handelt es sich um ein künstlerisches Staatsgebilde ohne ‚reales’ Terri-torium und ohne Staatsnation, das sich in zeitlichen Abständen an verschiedenen Orten in Form einer ‚Botschaft’ oder eines ‚Konsulates’ materialisiert. Außerdem stellt der NSK Staat auf Antrag Reisepässe aus, die als „confirmation of temporal space“ (NSK) gelten und von jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder Nationalität erworben werden können. Verschiedene Quellen berichten, dass während des Krieges in Bosnien-Herzegowina in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einigen Personen mittels dieses NSK-Reisepasses die Überquerung internationaler Grenzen geglückt sein soll – was ihnen sonst, in Ermangelung offizieller Dokumente ihres (noch) nicht anerkannten Staates, nicht gelungen wäre. Die Ap-propriation staatlicher Hoheitszeichen wie Botschaften, Konsulate, Pässe und anderer Insig-nien (z.B. Briefmarken), die temporäre Übernahme von Territorien und ganzer Armeen exis-tierender Staaten (NSK Garda) stellt ein ebensolches ambivalentes, weil gleichzeitig affirma-tives und widerständiges Konzept dar: Dieser Staat stellt durch seine bare ‚Existenz’ (die ei-gentlich eine ‚Nicht-Existenz’ ist) die Logik anderer bestehender staatlicher Gebilde in Frage. 

Rétrograder pour mieux sauter 

Das zentrale „Denkprinzip“ der Gruppe Irwin, auf dem alle ihre in diesem – zweiten – Kapitel dokumentierten Arbeiten beruhen, besteht in einer paradoxen, sich vorwärts schraubenden und Schleifen durch die Vergangenheit ziehenden Bewegung in die Zukunft. Während man mit den Begriffen ‚Sampling’ und ‚Loop’ die paradoxen Bewegungen der Gruppe auf einer linearen Zeitschiene charakterisieren kann – als Wiederholungen, denen es um ein Insistieren, ein Sich-Verhalten-Zu-Etwas, eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“ (Kierkegaard) geht – verweist der Begriff des Palimpsestes auf die Methode, nach der Irwin bestimmte Motive auswählt, sowie auf das Prinzip der ‚Verräumlichung’ zeitlich tiefer Schichtungen, nach dem die Gruppe ihre Bilder aufbaut. 

‚Sampling’ bezeichnet im engeren Sinne in der Musik die Verwendung bzw. das Zitieren ‘vorgefundener’ Musikstücke, Bruchstücke oder Sounds. Im Gegensatz zum quasi selbstrefe-rentiellen („dionysischen“) Sampling, das Samples als Material zur Schaffung von Geräusch-texturen und -architekturen benutzt, ähnelt die Verwendung von Zitaten auf den Bildern von Irwin eher einer „fetischistischen“ Samplingmethode.20 Bei dieser Art des Samplings ist der Sample ein referentielles Objekt, das ausgewählt wird, weil es eine bestimmte Bedeutung hat – hier findet Erkenntnis durch Wiederholung statt. Das ‚Loopen’ erzeugt darüber hinaus eine Wiederholung, die „zugleich linear und zyklisch ist, eine Spiralbewegung, die Vergangenheit 

20 Diedrich Diederichsen unterscheidet „nichtbedeutendes“ oder „dionysisches“ Sampling von „bedeutendem“ oder „fetischistischem“ Sampling. Während beim „dionysischen“ Sampling das Geräusch oder der Klang so lange wiederholt, isoliert und auch manipuliert wird, dass er nur noch auf sich selbst verweist, verwendet die andere Samplingmethode Geräusche und Klänge, die in einen „Zusammenhang gebracht werden sollen mit Ge-schichte, Bedeutungen, Positionen, Parteilichkeiten etc.” (Diedrich Diederichsen, „Zur musikalischen Technik in HipHop und Techno“, in: contd <http://www.art-bag.net/contd/issue2/dd.htm>. Vortrag am 13.6.1997 in der Akademie der Künste Berlin im Rahmen der Vortragsreihe ”Musik im Dialog”). 7 

wiederholt, um Zukunft zu gewinnen, eine offene Schleife, die ihre Wirkungen als Ursache rückkoppeln kann.”21 Wiederholung ist bei Irwin (nachträglich) prospektive Erinnerung – nämlich eine „gegenwärtige Öffnung des Vergangenen auf Zukunft hin.“22 

Mit dem Begriff des Palimpsests23 dagegen lassen sich zweierlei Dinge bezeichnen, die je-doch eng miteinander verbunden sind: einmal das Auswahlprinzip, nach dem die Gruppe Ir-win bestimmte Bilder (‚Prätexte’) für ihre Arbeit auswählt und zum anderen das produktions-ästhetische Verfahren, das auf den Bildern zur Anwendung kommt. Die Gruppe Irwin ver-wendet auf ihren Bildern nicht beliebige historische Versatzstücke, sondern wählt gezielt die-jenigen Bilder und Zeichen aus, denen im Lauf der Zeit und durch sich wandelnde Kontexte zusätzliche Bedeutungen und Konnotationen zugekommen sind. Diese Konnotationscluster oder Bedeutungsverdichtungen werden vor allem von bzw. an Zeichen gebildet, die rückbli-ckend solche Punkte in der Geschichte bezeichnen, an denen das Umschlagen von genuin utopischen Ansätzen in traumatische Erfahrungen festzumachen ist. Vor allem die von Irwin verwendeten Zitate aus der (sowjetrussischen) künstlerischen Avantgarde transportieren ne-ben ihrer ursprünglichen utopischen Bedeutung eine zweite Bedeutungseben, die vom Schei-tern eben dieser künstlerischen Utopien kündet: Die Zeichen werden neben der Beibehaltung des ursprünglichen Textes zu traumatischen Texten. 

Wird ein solches Zeichen, Bild oder ein solcher Text wiederholt, werden neben der ursprüng-lichen Bedeutung gleichzeitig alle weiteren an dieses Zeichen angelagerten Bedeutungen bzw. Konnotationen aufgerufen. Genau diese Anreicherung mit immateriellen Schichten, dieses Mitnehmen der zusätzlich durch die Zeit akkumulierten Bedeutungen, lässt die ‚Texte’ zu schillernd mehrdeutigen und ambivalenten Zeichen werden, die in den Wiederholungen durch Irwin endlos zwischen ihren verschiedenen, oft auch widerstreitenden Bedeutungs- und Kon-notationsschichten changieren. 

Die nachträglichen ‚Konnotationsakkumulationen’ sind somit einerseits Kriterium für die Auswahl bestimmter Bilder, andererseits rekonstruiert bzw. visualisiert die Gruppe Irwin in ihren Bildern, die man auch als „theoretische Objekte“24 bezeichnen könnte, diese eigentlich unsichtbaren Konnotationsschichten: zunächst, indem sie die übereinandergeschichteten und einander widersprechenden Texte entzerrt, dekomprimiert, verräumlicht, und dann, indem sie diese historischen Schichten und Konnotationen in Bildmontagen sichtbar macht und so in einen Dialog miteinander bringt. So verdeutlicht z.B. die Gegenüberstellung von einander diametral entgegengesetzten Zeichen in der Aktion Black Square on Red Square oder auf dem Bild Malewitsch zwischen zwei Kriegen die ambivalenten Bedeutungen von Bildzitaten der historischen Avantgarde in Form einer expliziten Ausformulierung dieser in der Avantgarde konfligierenden Bedeutungen. Irwin macht also mit der ‚Verräumlichung’ von Palimpsesten 

21 Martin Conrads, „Samplermuseum“, in: Kunstforum International, Der gerissene Faden. Nichtlineare Techni-ken in der Kunst, hg. v. Thomas Wulffen, Bd. 155 (Juni-Juli 2001), S. 216-221, hier: S. 217f. 

22 Eckehard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995, S. 19. 

23 Ein klassisches Palimpsest ist eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift, bei Papyrus durch Abwi-schen, bei Pergament durch Radieren mit Bimsstein, beseitigt und durch eine jüngere ersetzt ist. Das Löschen der vorhergehenden Schrift(en) ist jedoch nie so total, dass die früheren Texte vollkommen verschwinden würden. Der Begriff des Palimpsestes steht – neben seiner klassischen Bedeutung – auf abstrakterer Ebene für eine Kon-zentration historischer, in Simultaneität gegebener Schichtungen. Diese bestehen aus „Überlagerungen divergen-ter, konfliktuöser historischer Schichten“, die den Leser bzw. Betrachter mit „derart massive[n] Widerstände[n]“ konfrontieren, dass die „Selbstreflexion des Lesens umschlägt in eine kommentierende Archäologie historischer Strata und deren Brüche, Interferenzen, Verschleifungen“. (Lobsien 1995, S. 81-82). 

24 Peter Weibel, Probleme der Neo-Moderne, in: Ders. (Hg.), Identität : Differenz. Tribüne Trigon 1940 – 1990. Eine Topographie der Moderne, Kat. Graz 1992, S. 3-21, hier S. 20. 8 

die Konflikte zwischen unterschiedlichen historischen Diskursen sichtbar.25 Die New Yorker Kunstkritikerin Kim Levin sagt daher über Irwin zu Recht: “Their paintings are full of conflicting pasts.”26 

Dies kommt in Irwins bis heute mit über 500 Ölbildern wohl umfassendster Serie Was ist Kunst (seit 1985) am deutlichsten zum Ausdruck. 1996 begann die Gruppe in der Installation Irwin Live mit dem Herausdestillieren einzelner Motive aus ihrem über mehr als zehn Jahre zusammengetragenen reichen Bildfundus. Seit 1998 bezeichnet sie die so gewonnenen sechs Motive und die dazugehörigen ikonografischen Reihen als Irwin Ikonen. Die beiden Katalog-beiträge der Kunsthistoriker Daniel Spanke und Igor Zabel widmen sich ausführlich diesem neuen Werkkomplex. Mit der Installation Was ist Kunst Slowenien (2001) ging die Gruppe dazu über, nicht mehr die von ihr kollektiv gemalten, aus der europäischen Kunstgeschichte zitierenden Bilder auszustellen, sondern direkt Originale verschiedener Künstler aus Privat- und Museumssammlungen in typische Irwin-Rahmen zu fassen. Für die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 wird erstmalig die Installation Was ist Kunst Deutschland (2003) mit Leihgaben realisiert, die die deutsche Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Zusammen mit der dritten und letzten Version Was ist Kunst Russland, die in naher Zukunft produziert werden soll, erstellt Irwin so ein Panorama der für die Gruppe wichtigen kulturel-len Einflüsse und Bezüge. 

Verbindungen schaffen 

Für Künstler, die wie Irwin in Gruppen oder Kollektiven arbeiten, ist das Thema des „Schaf-fens von Verbindungen“ (3. Kapitel) ohne Zweifel ein besonders wichtiges. Dabei lassen sich zwei große Phasen voneinander unterscheiden: Während Irwin und die NSK in den 1980er Jahren selbst zu ihrem eigenen sozialen Kontext wurden und ihr Interesse folglich nach innen gerichtet war – das Kollektiv kommunizierte nur durch ‚Nicht-Kommunikation’ mit einem ‚Außen’ – öffnet sich die Gruppe (hier vor allem Irwin) in den 1990er Jahren zunehmend und lädt externe Teilnehmer – Kuratoren-Kollegen, aber auch befreundete Künstler – zur Mitar-beit an Projekten ein. War die Perspektive in den 1980er Jahren vor allem eine lokale, weitete sie sich in den 1990er Jahren auf eine globale, die vor allem die Situation Osteuropas im Blick hat. 

Zentral für Irwins Netzwerkstrategie der 1990er Jahre sind in dieser Hinsicht der 1991 ge-gründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) und das Transnacionala-Projekt von 1996. Das Konzept des immateriellen NSK Staates in der Zeit führt weg von dem für die 1980er Jahre gültigen Selbstverständnis der NSK als hermetischer und statischer Entität. Es betont im Gegensatz dazu das Moment der Kommunikation, der offenen Interaktion, der Be-wegung, des Erfahrungsaustausches und des Netzwerkens. Im Rahmen der NSK Embassy Moscow (1992) z.B. reisten die Mitglieder der NSK gemeinsam nach Moskau und eröffneten in einer Privatwohnung eine temporäre ‚Botschaft’ des NSK Staates in der Zeit. Dort fanden während eines Monats im Rahmen von Vorträgen von Irwin als auch Vorträgen eingeladener TheoretikerInnen und Künstler Diskussionen zur Funktion und Bedeutung der Kunst der 1980er Jahre in Jugoslawien und der Sowjetunion statt. Das Projekt wurde in der Publikation NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East dokumentiert.27 

25 Vgl. dazu ausführlich Inke Arns, Objects in the Mirror may be Closer Than They Appear: Die Avantgarde im Rückspiegel, Phil.-Diss., Humboldt-Universität zu Berlin 2003 [unveröffentlichtes Typoskript]. 

26 Kim Levin über Irwin, in: Michael Benson (Regie), Predictions of Fire, Dokumentarfilm über die NSK, 16 mm-Film (Produktion: RTV Slovenija & Kineticon Pictures), 90 min., Ljubljana 1995. 

27 Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East, Koper o.J. [1992/93]. 9 

Im Sommer 1996 startete eine internationale Gruppe von zehn Künstlern (Alexander Brener, Vadim Fiškin, Jurij Lejderman, Michael Benson, Eda Čufer und die fünfköpfige Irwin-Gruppe) in zwei Wohnmobilen zu einer einmonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten. Dieses Projekt, das von den Reisenden ein Zusammenleben auf engstem Raum forderte (zehn Leute auf zehn Quadratmetern), wurde zu einer „experimentellen, existentiellen Situation“ (Eda Čufer) für die TeilnehmerInnen. Ziel dieser Reise war es, sich über Kunst, Theorie und Politik im Kontext zeitgenössischer Kunst auszutauschen. Während der Fahrt über die ameri-kanischen Highways, auf Rastplätzen, in Motels, in der Mojave Wüste und am Grand Canyon diskutierte die Gruppe über diese Themen sowie über die (Un-)Möglichkeit einer osteuropäi-schen Identität in der Kunst. Zwischendurch wurden Stationen in Atlanta, Richmond, Chica-go, San Francisco und Seattle gemacht, an denen diese Themen mit VertreterInnen lokaler Künstlercommunities diskutiert wurden. Das Reiseprojekt ist in der 1999 von Eda Čufer herausgegebenen Publikation Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art dokumentiert worden.28 

Diese auf Vernetzung und Austausch angelegten Projekte der 1990er Jahre – Viktor Misiano nennt sie „konfidentielle Projekte“29 – zeugen von einem grundlegenden Wandel des Begriffs Kommunikation insofern, als nicht mehr nur intern innerhalb der Gruppe (als Ersatz eines nichtvorhandenen ‚Außen’) kommuniziert wird, sondern sich im Gegenteil das gesamte Selbstverständnis der Gruppe hin zu einem Hersteller von Kommunikation gewandelt hat. 

Östlicher Modernismus 

Das vierte Kapitel der vorliegenden Anthologie widmet sich den Versuchen der Gruppe Irwin, aktiv in die nach wie vor gültige ‚große Erzählung’ der westlich dominierten Kunstgeschichte einzugreifen. So konstruiert z.B. Irwins Installation Retroavantgarde für den geographischen Raum Jugoslawiens eine fiktive Kunstrichtung der „Retroavantgarde“, deren Wurzeln auf verschiedenen Schaubildern und anhand der Arbeiten angeblich dieser Richtung angehörender Künstler bis in die 1910er bzw. 1920er Jahre zurückverfolgt werden können. Retroavantgarde „ist ein komplexes künstlerisches Statement, das über das Fehlen eines stabilen kunsthistori-schen Narrativs moderner und zeitgenössischer Kunst in Slowenien, Jugoslawien und generell in Osteuropa reflektiert. Die künstlerischen Errungenschaften dieser Regionen haben es nicht geschafft, Teil des westlichen Kanons zu werden oder selbst ihr eigenes konsistentes Meta-Narrativ zu entwickeln.“30 

Als Reaktion auf diesen doppelten Mangel greift die Gruppe mit einer für sie typischen Geste auf einen für die Definition und Herleitung des Modernismus zentralen Baustein zurück: auf Alfred H. Barrs Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935.31 Dieses 1936 vom Gründungsdirektor des New Yorker Museums of Modern Art (MoMA) entwickelte Dia-gramm fasst im Sinne einer ästhetischen Evolutionstheorie die europäischen Avantgardebe-wegungen als Vorläufer der (geometrischen wie nicht-geometrischen) abstrakten Kunst des Modernismus auf. Mit einer ähnlich anmaßenden Haltung überträgt Irwin dieses Schema nun auf Jugoslawien, hier allerdings in Form einer umgekehrten Genealogie der „Retroavantgar- 

28 Eda Čufer (Hg.), Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art, Ljubl-jana 1999. Zur Irwins Installation Transnacionala vgl. Inke Arns, Transnacionala as lieu de mémoire, or: Ceci n’est pas un monument, unveröffentlichtes Typoskript (März 2000). 

29 Vgl. Viktor Misianos Text „Die Institutionalisierung der Freundschaft“ in diesem Katalog. 

30 Roger Conover/Eda Čufer, Irwin, in: Roger Conover/Eda Čufer/Peter Weibel (Hg.), in search of Balkania. A manual, Graz 2002, S. 66-70, hier S. 67. 

31 Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, The Barr Effect. New Visualizations of Old Facts, in: Branislav Dimitrijević, Dejan Sretenović (Hg.), International Exhibition of Modern Art featuring Alfred Barr’s Museum of Modern Art, New York, Belgrad 2003, S. 49-59. 10 

de“, die von der Neo-Avantgarde der Gegenwart bis zur Periode der historischen Avantgarde zurückreicht. 

Darüber hinaus entwickelt Irwin als Alternative zu den großen Erzählungen des Westens die Strategie des ‚Östlichen Modernismus’, die die Gruppe erstmals 1990 im Kontext der Ausstel-lungsreihe Kapital32 formulierte. Indem die Gruppe die Existenz eines ‚Östlichen Modernis-mus’ behauptet, greift sie auf polemische Weise den sich selbst als universal gültig setzenden Modernismus der Barrs und Greenbergs an. Mit der Partikularisierung des Begriffs suggeriert Irwin indirekt, dass es sich beim Modernismus eigentlich um einen ‚Westlichen Modernis-mus’ handelt, der eben nicht universale Gültigkeit hat. 

Als neuer, ‚Östlicher Modernismus’ soll die Retroavantgarde nun der sich universal gebenden westlichen Partikularität entgegengesetzt werden. Mit der Installation Retroavantgarde, die sowohl ein eigenständiges Kunstwerk als auch ein kartografisch-pragmatisches Instrument ist und 1997 erstmals in der Kunsthalle Wien gezeigt wurde, setzt Irwin das um, was (nicht nur) Osteuropa über lange Zeit (sowohl lokal durch die spezifische politische Situation als auch durch den bereits erwähnten internationalen Diskurs) verwehrt war: eine eigene und eigen-ständige Kunstgeschichtsschreibung. Irwin (re)konstruiert bzw. setzt einen Osteuropa eigenen Modernismus, indem die Gruppe die Existenz einer fiktiven jugoslawischen Retroavantgarde-Bewegung postuliert. Allerdings stellt sich heraus, dass dieser ‚östliche Modernismus’ min-destens genauso konstruiert, fiktiv und künstlich ist wie sein westliches Pendant. 

Neben künstlerischen Installationen stellen Kunstsammlungen im Allgemeinen und Samm-lungspolitik im Besonderen für Irwin ein bevorzugtes Instrument dar, um aktiv in die Kunst-geschichte einzugreifen. Da die „Logik der Sammlung“33 für die Unsichtbarkeit zeitgenössi-scher osteuropäischer Kunst im Westen34 verantwortlich gemacht wird, gilt es nicht nur, die westliche Sammlungslogik zu kritisieren, sondern dieser eine eigene „Logik der Sammlung“ entgegenzustellen. Die Gruppe wirkt daher seit Ende der 1980er Jahre an der Gründung ver-schiedener Kunstsammlungen mit (FRA-YU-KULT, Sarajevo 2000 und 2000+ ArtEast) und hat mit einem ihrer jüngsten Projekte (East Art Map A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, 2002) unter dem Motto „History is not given. It has to be constructed”35 eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwischen 1945 und der Gegenwart initiiert, die sich jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung’ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen be-wegen soll. 

Ermöglicht wurde diese Anthologie – wie auch die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 – durch eine großzügige Zuwendung der Kulturstiftung des Bundes. Christoph Tannert, künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien (Berlin), begeisterte sich frühzeitig für dieses Projekt und schlug vor, die Ausstellung parallel zu Berlin – Moskau, Moskau – Berlin 1950-2000 im Künstlerhaus Bethanien stattfinden zu lassen. Die Übernah-men der Ausstellung durch das Karl Ernst Osthaus-Museum (Hagen) und das Museum of Contemporary Art (Belgrad) sind der Initiative von Dr. Michael Fehr, Direktor des Karl Ernst 

32 Irwin, Kapital, Kat. Ljubljana 1991. Die erste Ausstellung im Rahmen von Kapital fand im Dezember 1990 in der Equrna galerija in Ljubljana statt. 

33 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung, München/Wien 1997, S. 159. 

34 Diese Unsichtbarkeit hat wesentlich mit dem ‚westlichen’ Blick zu tun, der eigene Partikularitäten zu universal gültigen Wertmaßstäben verklärt: Wenn zeitgenössische osteuropäische Kunstproduktionen von den uns bekann-ten Mustern abweichen, sind sie provinziell und damit uninteressant. Wenn sie sich jedoch mit unseren bekann-ten Vorbildern messen können und diesen zu ähneln scheinen, so ist das dem westlichen Blick ein Beweis für ihre Unoriginalität (vgl. Groys 1997, S. 159). 

35 Irwin, East Art Map – A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, Plakat, 2002. 11 

Osthaus-Museums in Hagen und Dejan Sretenović, Chief Curator am Museum of Contempo-rary Art in Belgrad zu verdanken. Ein herzlicher Dank gilt auch allen Leihgebern und Leihge-berinnen, die durch das Zurverfügungstellen der Exponate diese Ausstellung überhaupt erst ermöglicht haben. Besonders sei auch allen Autorinnen und Autoren gedankt, die uns alle ohne Ausnahme die Rechte zum Wiederabdruck ihres bzw. ihrer Texte eingeräumt haben und so zur Entstehung eines Katalogbuches beigetragen haben, das international die erste, das Gesamtwerk der Gruppe umfassende Publikation zu Irwin darstellt. Und nicht zuletzt sei den Künstlern der Gruppe Irwin für eine intensive und anregende Zusammenarbeit gedankt. 

Erschienen in: 

Inke Arns (Hg./ed.) 
Irwin: Retroprincip 1983-2003 
September 2003 

Deutsch: ISBN 3-936919-51-8 
English: ISBN 3-936919-56-9 

ca. 250 Seiten/pages 
ca. 110 Farbabbildungen/color reproductions 

30,5 x 24,5 cm 

ca. 25 € 

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Kommt noch was?

14.4. – 29.4.2022, Vitrine am Karlsplatz
14.4. – 2.5.2022, Vitrine am Schottentor

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Blick aus meinem Wohnzimmer eines nachmittags im April.

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Hört man den Körper des Komponisten in seinem Werk? Wo ist das Werk, wenn es nicht erklingt? Verbietet der Krieg das Nachdenken über die Kunst?

Ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm.

Von Jörg Brachmann (FAZ)

Wolfgang Rihm ist seit einem halben Jahrhundert eine eminente Figur. Mit Wucht und Souveränität behauptete er sich schon als junger Mann gegen eine Neue Musik, die vor lauter Innovationsdruck immer unfreier wurde, und suchte doch nicht die Ausflucht in Nostalgie, sondern originäre Gegenwart. Immer wollte er mit den gemachten Erfahrungen, nicht gegen sie komponieren. Heute überragt sein weltweit gefeiertes Werk die Wegwerfproduktion von politischen wie technologischen Trendsuchern. Am 13. März wird Rihm siebzig Jahre alt. Wir trafen uns in seiner Karlsruher Wohnung zum Gespräch.

„Was kommt, kommt. Gestrampel jedweder Art arbeitet sich selbst ab”, schrieben Sie einmal. Das erinnert mich, in der Betonung des zwanglos Organischen, an die Idee der „Mikrotektonik” beim russisch-französischen Komponisten Georges Conus. Er glaubte, dass die Zeitproportionen in musikalischen Werken jenen biologischer Organismen folgen.

Ich bin absolut davon überzeugt. Ich glaube sogar, stilistische Eigenheiten und Krankheiten schlagen sich strukturell in bestimmten Proportionen der Werke nieder.

Das würde bedeuten, dass die Physis des Komponisten Einfluss auf die Werkgestalt habe – und zwar ohne dass er selbst sich darüber genau Rechenschaft ablegen könnte.

Und ohne, dass es als biographische Aussage von weiterem Wert wäre. Es ist nur für die Detailanalyse – für die Relation von Psyche, Physis und die Zwischenform ‚Werk’ – von Belang, um da eine operable Größe zu finden. Ich rede jetzt nur von Dingen, die ich selbst erlebt habe, die ich durch mich selbst kenne, etwa von bestimmten Formen des abundanten Wachstums. An meiner Krebserkrankung, einem Sarkom im Oberschenkel, laboriere ich nun schon über zwanzig Jahre. Ich verbinde diese Krankheit durchaus mit einer bestimmten Produktionshaltung, einem proliferierenden Wachstum von kleinsten Einheiten, die – wenn’s gut geht – eine innere Stimmigkeit erzeugen, die aber – wenn’s problematisch wird – den Grund legen können für Prozesse, die den gesamten Organismus schädigen.

Das klingt nach Selbstkorrektur. In Ihrem frühen Aufsatz über das „Jungerkomponistsein” waren Sie überzeugt, dass Kunst alterslos sei und die Kunstproduktion auch.

Das waren sicher sehr relative Aussagen damals. Aber dieses alterslose Produzieren, wo ich den Anschluss an einen Lebensstrom spüre, das ist etwas, was ich momentan nicht kann. Das ist mir vielleicht auch durch Corona aus der Hand geschlagen worden. Mir fehlt der Austausch über die Arbeit. Bislang war immer klar: Ich mache etwas – und dann wird sich dazu verhalten. Entweder kriege ich was aufs Dach, oder ich werde emporgehoben. Aber irgendetwas geschieht. Und jetzt – passiert gar nichts. Die ganze Welt hat sich weggeduckt.

Porträtfilm über Wolfgang Rihm Video: Hochschule für Musik Karlsruhe/YouTube

Sie haben als ganz junger Mensch bereits gesagt: Das bin ich; das will ich ausdrücken, egal, welche Forderungen der Betrieb stellt. Sie haben gegen eine Dominanz serieller Verfahren wieder die Subjektivität im Komponieren stark gemacht. Woher kommt diese Widerstandskraft gegen Verunsicherung durch herrschende Machtstrukturen?

Es gab diese Verunsicherung auch bei mir. Immun war ich dagegen nicht. Ich habe aber daraus den Impuls entwickelt: Du musst dich dagegenstellen. Nicht programmatisch, von Anfang an, sondern situativ, wenn der Fall nötigen Widerstands eintritt. Es hat gewiss auch mit meiner Physis zu tun. Ich bin – mit früher ein Meter dreiundneunzig, inzwischen etwas geschrumpelt – halt nicht unterzubuttern. Meine Physis hat mir geholfen. Aber trotzdem: Man muss den Dialog auch aushalten, egal, wo man hinkommt. Was soll ich denn auch anderes tun, als mich akzeptieren? Dieses Verweisen auf Subjektivität konnte ich nicht als Leistung empfinden. Ich hab mir doch nicht ständig auf die Schulter geklopft und gesagt: Ah, wie subjektiv bin ich! Ich konnte doch nicht so tun, als käme ich aus einem völlig keimfreien Gebiet und sei mit höherem Wissen ausgestattet, vielleicht von einem fremden Stern mit Antennen am Kopf. So, wie ich es gemacht habe, habe ich es gemacht. Und dazu stehe ich noch heute. Ich habe auch nie den Drang verspürt, irgendwelche Kodifizierungen von mir zu geben. „Die Maßgaben der Kunst” von Peter Hacks, ein schönes Buch, habe ich zwar gelesen, aber nie gedacht, ich müsse selber maßgeblich wirksam sein. Mein Gedanke war immer: Seid so, wie ihr seid. Das gibt euch selbst das Maß.

Ein Maß, das aus dem Machen selbst, aus dem Tätigsein erwächst?

Ganz genau. Es ist ein Ins-Werk-Kommen, die Dinge kennenlernen. Kein Davor-Sitzen und Sich-Anhören, „was man machen muss”. Ein Ausprobieren von Gegenpositionen. Und das ist genau mein Problem im Moment: Ich kann nicht tätig sein, oder ich bin’s zu wenig. Und das empfinde ich als Krankheitssymptom: Der Tätigkeit entzogen zu sein, ist ein Fehl. Das letzte, was ich habe schreiben können, ist ein Liederzyklus nach Gedichten von Albert Vigoleis Thelen, die „Terzinen an den Tod”, für Gesang und Klavier. Ich hab das für Georg Nigl geschrieben; das wird jetzt gerade bei der musica viva in München uraufgeführt. Aber seitdem hab’ ich nichts mehr hingekriegt.

Ist es eine neue Erfahrung, dass Sie über mehrere Monate hinweg nichts schreiben konnten?

Absolut. Das hat sicher auch psychophysische Gründe. Da spielt einiges eine Rolle, was sich gar nicht im Beredbaren aufhält.

Beunruhigt Sie das? Oder lassen Sie das über sich ergehen?

Beides. Es beunruhigt mich, aber ich merke auch: Ich kann’s ertragen. Was mir da gerade widerfährt, ist nicht etwas grundsätzlich Vernichtendes. Ich sehe, dass ich da durchkann und durchmuss. Aber es tut weh.

Ein Schmerz, der sicher noch größer wird durch den Krieg in der Ukraine. Lässt diese Katastrophe es überhaupt zu, momentan über Kunst nachzudenken?

Leider doch, denn Kunst spielt nie in geschichtsfreien Räumen. Sie ist aber dennoch stets mehr als eine Art Resonanzboden der Ereignisse. Das Geschehen in der Ukraine konfrontiert uns mit einem abscheulichen Angriffskrieg, in dem Machtwillen und Unterdrückung ein bis dahin kaum vorstellbares Szenario der Erpressung generieren. Wir sollten allerdings vorsichtig sein und daraus keine moralische Höherwertigkeit unserer demokratie- und bündnisgeschützten Position ableiten: etwa, indem wir Bekenntnisse abfordern von Menschen, deren geldwerte Präsenz uns bis dato sehr lieb war, wenn es darum ging, in dem Kultur-Abschöpfungs-Zirkus, den wir „Klassik” nennen, „wertschöpferisch” mitzuwirken und Erträge zu sichern. Aber all solche verunsichernden Überlegungen werden überformt von diesem bedrohlichen Einbrechen der Zeit, nein, des Todes in das Spiel. Und das in nächster Nähe.

Nun sind freilich Ihre „Terzinen an den Tod” viel früher entstanden. Was hat Sie dabei so angezogen?

Die eigentümlichen Texte. Ich kannte sie gar nicht. Sie stammen aus dem Band „Im Gläs der Worte”. Hier ist das Skizzenbuch dazu. Die Lieder sind im Sommer 2021 fertig geworden. Seitdem habe ich nichts mehr schreiben können. Die Daten sind vermerkt: April bis Juli. „Das Gebet der Hexe von Endor” ist davor entstanden. Und „Sostenuto”, ein Orchesterstück, habe ich abgeschlossen am 4. Januar 2020. Das ist nun über zwei Jahre her!

Wolfgang Rihm: Das Rot. Sechs Gedichte der Karoline von Günderode. Christoph Prégardien (Tenor), Ulrich Eisenlohr (Klavier) Video: hr-Sinfonieorchester/YouTube

Michelangelo beschrieb die Trauer bei der Entscheidung, sich unter den vielen möglichen Gestalten, die ein Marmorblock enthalte, für die eine zu entscheiden. Ist die Festlegung der definitiven Gestalt auch für Sie ein trauriger Moment?

Das ist bei der Musik nicht so tragisch. Denn in der Musik lassen sich noch Einfügungen während des Schreibprozesses machen, die beim Behauen eines Blocks nicht möglich wären. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Musik lässt auch Übermalungen zu, bei denen das Übermalte nicht verschwindet. Zudem werden durch die Arbeit Projekte möglich, an die man zuvor gar nicht gedacht hatte. Allein der Vorgang der Tätigkeit, des Fassens von Gedanken, des Formens eröffnet immer auch etwas. Er schließt nicht nur ab.

Die Erfahrung von Musik unterscheidet sich ja ganz stark danach, ob ich sie nur höre oder auch selbst mache. Viele taktile Lust- oder Qualmomente, auch Sinnebenen erfährt nur der Spieler, nicht der Hörer. Gibt es für sie als Komponisten auch solch einen Erfahrungsbereich, über den Sie nur sprechen, den Sie aber nicht teilen können? Ruft das Wiederhören zum Beispiel Erinnerungen wach, die mit dem Schreiben verknüpft sind?

Ja, man kann darüber reden, dass es jedes Mal etwas anderes ist; dass es Erfahrungen sind, die mit anderen kollidieren oder diese bestätigen, sogar verstärken. Als kürzlich in Heidelberg das Leonkoro-Quartett mein neuntes Quartett gespielt hat, schoss mir durch den Kopf: „Mein Gott, ich wusste gar nicht, dass das so gut ist”! Ich hatte das Gefühl einer besonderen Stringenz, einer inneren Kohärenz. Dass alles am Ort ist und alles stimmt. Das war mir vorher nicht klar. Ich dachte beim Komponieren, ich suche mit der Stange im Nebel nach etwas. Dass sich daraus wirklich ein Bogen ergibt, eine Schlüssigkeit entsteht – das zu hören war ein Glücksmoment für mich.

Eine kreative Leistung des Quartetts?

Natürlich ist alles in den Noten angelegt, aber es herauszufinden und darzustellen – das ist schon die Leistung der Musiker. Das Glücksgefühl, dass ich dabei hatte, war keine Bestätigung, wie gut ich bin. Ich weiß, dass ich auf die Musiker angewiesen bin. Aber wenn sie gut sind, dann bin ich es auch. Man kann den Notentext gewiss kontrollieren: auf saubere Tonhöhen, richtiges Tempo, genaue Dynamik. Aber das führt höchstens zu einer orthographischen Richtigkeit. Aber diese innere Stimmigkeit, die wirklich spürbar ist, die zeigt, dass durch die richtige Abfolge der Töne auch ein innerer Strom fließt, ein Stoff sich bewegt! Das sind die Glücksmomente gelungener Interpretation. Die erlebe ich allerdings nicht nur mit eigenen Werken, sondern auch bei klassischen Texten. Manchmal erreichen diese Momente die Grenze des Ausgeschöpftwerdens, und dann weiß man: So schnell wird sich das nicht wiederholen – und ist selbst erschöpft.

Eine schöne oder eine traurige Erfahrung?

Eine glückliche Erfahrung, die zur Trauer animiert.

Das heißt aber, dass auch für Sie Musik ihre Wirklichkeit erst im Moment des Erklingens hat.

Ich glaube ja. Ich lese zwar gern Partituren, aber da erfreue ich mich am Feinschliff der Technik, am Schnitt des Gefügt-Seins. Doch das sagt noch nichts. Das kann so gespielt werden, dass man von einem Gähnen ins andere fällt.

Wolfgang Rihm: „Im Innersten“. Streichquartett Nr. 3 (Minguet-Quartett)Video: Zewen Sama/YouTube

Interpretation setzt die Trennung zwischen einem Text und seiner Gestalt des In-die-Zeit-Tretens voraus. Doch in der Musik lässt sich das schwer trennen.

Ja! Das lässt sich wirklich ganz schwer trennen. Wo wäre denn „die eigentliche Gestalt”, die nicht in die Zeit träte? Und kann überhaupt etwas in die Zeit treten, das nicht vorab durch „die eigentliche Gestalt” ermöglicht wäre? Es gibt dieses Referieren oder Ausbuchstabieren der „eigentlichen Gestalt”. Aber genau das ist es nicht, was diese Glücksmomente des Stroms und der Schlüssigkeit auslöst. Gleichwohl bleiben Interpretationen immer auf dem Wege. Sie sind kein Ankommen.

Hat eigentlich die deutsche Wiedervereinigung irgendeinen Einfluss auf Ihre Arbeit gehabt?

Schwierige Frage. Wenn ich ehrlich bin, nicht. Das verstört mich jetzt selbst. Ich bin noch nie danach gefragt worden. Allenfalls atmosphärisch hat es mich berührt. Es war für mich ein inneres Aufatmen, nachdem die Zwangssituation der deutschen Teilung endlich vorüber war. Dass andere Zwangssituationen daraus neu erwuchsen, ist mir klar. Das habe ich dann auch bemerkt. Doch die erste innere Reaktion war: „Ach, Gott sei Dank!”. Autoren aus der ehemaligen DDR waren mir ohnehin vorher schon wichtig. Mit Heiner Müller hatte ich mich bereits vor dem Mauerfall beschäftigt. Peter Huchel hatte ich nach seiner Emigration in seiner Staufener Zeit getroffen; Erich Arendt war mir in Rom begegnet, in der Villa Massimo, wo ich ihm noch mein Transistorradio geschenkt hatte. Von den Komponisten aus der früheren DDR ist kaum jemand auf mich zugekommen. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich von ihnen ein wenig gemieden wurde. Mit Georg Katzer und Friedrich Goldmann hatte ich immer guten Kontakt, wenn ich sie traf. Die übrigen schauten mich eher misstrauisch an. Nur der Steffen Schleiermacher ist direkt auf mich zugegangen.

Heute ist allerorten, in Ausstellungen und Inszenierungen, ein immenser Aktualisierungsdruck zu beobachten. Stets sollen die Tradition und der Kanon „auf ihre Gültigkeit” befragt werden, wobei mich dieses „Befragen” der Werke oft an Folter von verdächtigen Kriminellen erinnert.

Das ist streng gesagt, aber richtig. Wir erleben es heute überall, dass Kunstwerke nicht mehr den Kriterien entsprechen, die aktuell an sie angelegt werden. Und dann müssen Warnhinweise aufgeklebt werden. Zur Zeit ist das sehr beliebt.

Sie haben selbst unterschieden zwischen Anliegen und Auflagen in der Musik. Momentan werden die Auflagen erhöht. Sie lauten „Zugänglichkeit” oder „Diversität”.

Ja, so ist es. Alles sehr modische Felder. Trotzdem weigert sich etwas in mir, deshalb in Resignation zu verfallen. Ich sehe das genauso, bemerke aber zugleich das unfreiwillig Komische dieses ganzen Betriebes dabei. Alles läuft aufgeregt umher, um bloß nicht in den Verdacht zu kommen, nicht umherzulaufen. Denn das wäre das Schlimmste. Ich schaue gern mal die „Kulturzeit” auf 3sat. Da wurde kürzlich von einer Aufführung des „Ringes des Nibelungen” in Zürich berichtet, nur für Schauspiel, und euphorisch behauptet, dass es nun endlich an der Zeit sei, sich von Richard Wagner zu befreien. Und was hörte man? Ganz harmlose Pop-Musik. Na, toll! Das ist so trostlos, wie es zugleich hilflos ist.

Aber es ist wieder mal für fünf Minuten Relevanz behauptet worden!

Relevanz wird immer auf den Lippen geführt, wenn substanziell wenig los ist. Wann ist denn ein Kunstwerk relevant? Doch nicht wenn es Kriterien genügt, die von außen an es herangetragen werden, sondern wenn es aus sich heraus eine Schwerkraft entwickelt. Interessanterweise wurde Kunst immer dann sofort angegriffen, wenn sie, wie etwa bei Marcel Duchamps, aus sich heraus eine Relevanz besaß. So wird heute aus der Mediokrität heraus alles angegriffen, was den Verdacht nährt, als elitär gebrandmarkt werden zu können. Eine echte Avantgardekritik wird damit zugleich erledigt, weil der Gegenstand, an dem sie vorgibt, Kritik zu üben, durch die Relevanzdiskussion degradiert wurde. Eine Avantgardekritik, wie es sie in den sechziger und siebziger Jahren gab, ist heute gar nicht mehr möglich. Heute müsste man fast alles grundsätzlich verteidigen, weil der Angriff von Leuten geführt wird, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Es ist sogar deren eigene Mediokrität, die ihnen den Ausweis liefert, dagegen vorgehen zu können.

Wäre denn eine Avantgardekritik noch nötig?

Wahrscheinlich nein. Aber Qualität ist nötig. Egal, in welcher Kategorie sie sich zeigt. Schwierig, darauf zu antworten. Ich finde: Kunst sollte durch Kunst kritisiert werden.

Welchen Sinn hat es noch, von „Neuer Musik” zu reden?

Eigentlich nur einen historischen.

Wolfgang Rihm: Dis-Kontur Video: SWR-Sinfonieorchester Thema

Karlheinz Stockhausen wehrte sich noch Mitte der achtziger Jahre vehement dagegen, den Begriff „Neue Musik” durch den der „zeitgenössischen Musik” zu ersetzen, weil „Neue Musik” für ihn in ästhetischer Kontinuität zu dem zu stehen hatte, was die Nationalsozialisten als „entartete Kunst” verboten hatten. 

Diese Verbindung von Ästhetik und Moral führte aber letztlich dazu, dass andere Positionen mit der Moralkeule erledigt werden sollten. Ich habe das 1977 bei der Uraufführung meines dritten Streichquartetts in Royan selbst erlebt. Ich musste mir anhören, das sei „faschistische Musik”. Wahnsinn! Das war natürlich als Einschüchterung beabsichtigt, hat aber nicht gewirkt. Man wollte mich damit sofort mundtot machen. Wenn man als junger deutscher Komponist im Ausland auftrat und nicht eine in den entsprechenden Bereichen für gut befundene Ästhetik artikulierte, wurde man sofort mit dem Nazi-Vergleich konfrontiert. Ich habe es in England erlebt, dass die BBC im Radio einen Bericht über die Aufführung meines Stücks „Dis-Kontur” sendete. In dem Stück gibt es bestimmte Partien mit relativ harscher Akzent-Rhythmik. Sie wurden im Bericht überlagert vom Geräusch marschierender Stiefeltritte. Nahelegt werden sollte damit: „Jetzt marschieren die Deutschen wieder”.

Fanden Sie das amüsant oder beunruhigend?

Beunruhigend! Das war furchtbar! Ganz schrecklich!

Muss die „Neue Musik” die Gewaltgeschichte ihrer eigenen Diskurse endlich aufarbeiten?

Unbedingt! Neulich fragte mich Georg Nigl, ob es früher in Darmstadt oder Donaueschingen wirklich so schlimm gewesen sei, wie man immer lese: dass Boulez, Nono und Stockhausen so über Henze hergezogen seien, dass es diese Vehemenz des Sich-Gegenseitig-Wegkickens gegeben habe. Ja! So schlimm war es. In den Verlautbarungen von den intelligentesten Menschen!

Das waren Strategien ästhetischer Säuberungen.

Ich würde es mal so sagen: aus Naivität in deren Nähe kommend. Sicher stand nicht die Absicht dahinter, ein Konzentrationslager für tonale Akkorde verwendende Komponisten zu eröffnen. Aber es wurden Formulierungen gebraucht wie: Jemand, der diese Mittel verwende, sei „unnütz”. Im Sinne von „unwert”. Und sicher standen dahinter ganz kleinliche Interessen. Verlagsinteressen vielleicht auch. Heute ist das nicht mehr so. Nur herrscht heute eine andere Diktatur: die der Entscheidungsträger, die ausschließlich in der Unterhaltungswelt sozialisiert worden sind.

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Schließen wir daran an: In Berlin fanden im Januar gleichzeitig das Ultraschall-Festival für neue Musik und das CTM Festival statt. In beiden Festivals trat das Ensemble Mosaik auf; in beiden Festivals wurde mit Elektronik und Mikrotonalität gearbeitet. Trotzdem gilt Ultraschall als Kunst, CTM als Clubmusik. Was also ist „Neue Musik”? Die Klassifikation ist ja mit weitreichenden kulturpolitischen und finanzpolitischen Konsequenzen verbunden.

Natürlich. Deshalb sprach ich gerade von den wirtschaftlichen Interessen, die vermutlich schon vor Jahrzehnten die ausschlaggebenden Faktoren gewesen waren für die Maßnahmen ästhetischer Ausgrenzung. Man hat auf der einen Seite die Anbetung der Mehrheitsfähigkeit, auf der anderen Seite aber auch diesen Drang, dem Unrepräsentativen beizuspringen, ihm zu helfen. Dass man durch diesen Drang nicht immer bei dem landet, was wirkliche Substanz hat, macht die Diskussion um die Kunst wirklich schwierig. Wenn ich jetzt gefragt werde, ob ein Werk Substanz habe, möchte ich oft sagen: „Das hört doch jeder gleich!” Tut er eben nicht. Ich habe für mich selber, wahrscheinlich unbewusst gesteuert, die Entscheidung getroffen, dass ich, wenn ich in Gremien tätig bin, so gut es geht, helfe, aber meine eigenen Kriterien nur auf mich selber anwende und nicht andere daran messe. Könnte man das als Resignation bezeichnen?

Eher als Skepsis gegenüber sich selbst.

Das sowieso. Aber zur Skepsis gegenüber sich selbst gelangen zu können, ist bereits ein Privileg. Die Skepsis ist keine Widerfahrnis, sie ist eine meiner besten Hervorbringungen. Ich habe aus der Skepsis immer sehr viel Kraft gezogen: Eben nicht imitieren zu müssen, was den momentanen Erfolg garantiert, sondern dubios bleiben zu dürfen: in dulci dubio.

Quelle: F.A.Z.

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Das nächste Treffen zu unseren Ausstellungen in den Vitrinen am Karlsplatz und am Schottentor findet am Montag ab 12 Uhr in Raum 117 statt.

Hier die Termine:

Karlsplatz: 14.4. – 29.4.2022

Schottentor: 14.4. – 2.5.2022

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Der Fachbereich Abstrakte Malerei wünscht allen ein frohes neues Jahr 2022

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