gratuliert seinen Diplomandinnen
Violetta Ehnsberg
Angela Fischer
Aurelia van Kempen
Leonie Neumann-Mangoldt
allerherzlichst zu den mit SEHR GUT bestandenen Abschlüssen im Sommersemester 2022!
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Violetta Ehnsberg
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Wir leben im neuen Erdzeitalter: dem Anthropozän. Doch was bedeutet das in Hinblick auf die Krisen unserer Zeit, von Krieg bis Klimawandel?
Ein Gespräch mit Bernd Scherer, Intendant am HKW, Berlin.
Hanno Hauenstein, 27.5.2022
Die Menschheit befindet sich in einem neuen Erdzeitalter – dem Anthropozän. Doch was heißt das genau? Und was verändert sich dadurch für die Wissensproduktion? Diese Fragen bestimmten die letzten 16 Jahre der Intendanz Bernd Scherers im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). In seinem jüngsten Buch „Der Angriff der Zeichen“ untersucht Scherer unter anderem die Frage, was sich aus der neuen planetarischen Wirklichkeit für ethisches und politisches Handeln ableiten lässt – insbesondere mit Blick auf den Klimawandel. Wir trafen Scherer in seinem Büro im HKW.
Berliner Zeitung: Wann wurde der Begriff des Anthropozäns für Ihre Arbeit zentral?
Bernd Scherer: Das begann 2010/2011, als wir die Neuausrichtung des HKW entwickelten. Anfänglich hatte das Haus die Aufgabe, nicht-europäische Kultur vorzustellen. Das war jedoch obsolet geworden, nach 20 Jahren dessen, was man als „Globalisierung“ bezeichnet. Allein diese geographische Einteilung von Kultur ist bereits problematisch. Aber auch die Idee, Künstler als Repräsentanten ihrer Länder oder Gesellschaften zu verstehen. Die Frage lautete, wie eine Neuausrichtung des HKW im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Die Antwort: Wir brauchten eine Auseinandersetzung mit globalen Prozessen, die unsere Gesellschaften verändern und prägen und ohne die eine Gesellschaft wie die deutsche nicht verstanden werden kann.
Was für Prozesse meinen Sie?
2009 fand der Klimagipfel in Kopenhagen statt. Der Klimawandel erschien als existentielle Bedrohung sowohl für die europäischen Gesellschaften, wie die Welt als Ganzes. Im Kontext der Recherchen zu dem Thema stieß ich auf die Anthropozänthese von Paul Crutzen.
Was war daran entscheidend für Sie?
Eben, dass Naturwissenschaftler aufgrund der Analyse des Erdsystems sagen: Menschen intervenieren nicht mehr nur in die Natur, verändern sie also etwa nicht mehr nur durch Ackerbau und Tierhaltung. Nein, die Spezies Mensch hat in den letzten Jahrzehnten die Fähigkeit entwickelt, solche Energien freizusetzen, dass sie das Erdsystem selbst aus der Balance bringt. Das ist eine Feststellung von theologischer Dimension.
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In dem Sinn, dass die alte philosophische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur hinfällig geworden ist?
In dem Sinn, dass Menschen die Natur auf eine Weise durchdrungen haben, dass das ganze System aus der Balance gerät. Man kann beobachten, wie grundlegende materielle Kreisläufe wie z.B. der Stickstoffkreislauf wesentlich verändert werden. Durch das Haber-Bosch-Verfahren konnte Stickstoff künstlich gebunden und als Düngemittel, aber auch in der Kriegsführung für Sprengstoff eingesetzt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde in den USA eine Industrie geschaffen, die Stickstoff für die Kriegsführung herstellte. Nach dem Krieg stand dann plötzlich sehr viel künstlich hergestellter Stickstoff zur Verfügung, der Antreiber der sogenannten Grünen Revolution wurde.
Der Krieg bestimmte die Landwirtschaft …
Genau. Klassischerweise benutzten Bauern natürliche Düngemittel. Jetzt konnten sie unbegrenzt Stickstoff einsetzen. Das veränderte auch die Ökonomie. Zum Beispiel mussten Kleinbauern, um am Markt konkurrieren zu können, künstliche Düngemittel einkaufen und wurden so abhängig von den Kapitalmärkten. Darin sieht man, wie die materielle Transformation soziale, ökonomische und natürliche Prozesse beeinflusst. Was für Stickstoff gilt, gilt auch für CO2. Die fossile Energie, sprich die Bindung von Sonnenenergie durch die Erde in Prozessen, die Millionen von Jahren dauerten, wurde über technische Verfahren im 20. Jahrhundert für Mobilität genutzt. Dadurch wurde CO2 in die Atmosphäre freigesetzt, was bekanntlich zum Klimawandel beitrug.
Was genau faszinierte Sie daran?
Die Natur-Kultur-Unterscheidung wurde im philosophischen Bereich ja bereits vor 20, 30 Jahren als falscher Dualismus diskutiert. Jetzt aber stellten auch die Naturwissenschaftler fest, dass diese Trennung eigentlich nicht mehr funktioniert. Westliche Wissensproduktion beruht ja grundlegend auf dieser Trennung. Nun aber sagte die Naturwissenschaft: Was wir bisher als Natur betrachtet haben, wird mehr und mehr vom Menschen produziert. Das hat zur Folge, dass auch die Verfahren, wie Wissen produziert wird, gegenüber den Prozessen, die real stattfinden, nicht mehr angemessen sind.
Sie sagten, die Implikation der Anthropozän-These hätten theologischen Charakter. Was meinen Sie?
Das meint, dass das ganze planetarische System kollabiert und mit ihm unsere Wissenssysteme. Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine neue Gesamterzählung. Die theologische Dimension besteht also darin, dass wir mit Veränderungen konfrontiert sind, die unsere bisherigen Erfahrungs- wie Wissensräume übersteigen. Wir haben bisher kein eigenes Sensorium für die planetarischen Prozesse entwickelt.
Wie sind Sie diese Herausforderung angegangen?
Wir haben versucht, künstlerische, aktivistische und wissenschaftliche Formen der Wissensproduktion in einen neuen Zusammenhang zu bringen, in dem sich diese Probleme adressieren lassen.
In Ihrem Buch schreiben Sie über die „Technosphäre“ – wonach der Mensch nicht mehr Akteur ist, sondern Objekt der anthropozänen Entwicklung wird…
Die treibende Kraft der Moderne war die Idee, dass der Mensch die Natur beherrscht. Teilweise wurde das biblisch abgeleitet, dass der Mensch von Gott eingesetzt worden sei, um die Natur nach seinem Bild zu formen. Ich argumentiere, dass dieses Verständnis dazu führte, die Natur nur als bloße Ressource zu betrachten. In der Antike wurden mit dem Hammer oder dem Spaten körperliche Handlungen technisch erweitert. In dem Moment, wenn Techniken zu Technologien werden, kommt der Logos hinzu. Aus der Bewusstseinswelt der Menschen wurden Gegenstände hergestellt, die die Natur verändern. Man hat dann eben nicht mehr nur einen Spaten, sondern eine Dampfmaschine. Heute existieren ganze Technikbereiche, die von Algorithmen gesteuert werden. Es handelt sich um Bereiche, deren interne Logiken also kaum noch durchschaubar sind, selbst für ihre zentralen Akteure.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Man sieht das etwa an algorithmisch organisierten Finanzmärkten. Da kommt es immer wieder zu Zusammenbrüchen, die von Menschen höchstens mittelbar verantwortet werden.
Sie beschreiben, wie der Mensch Objekt einer Entwicklung wird anstatt Subjekt. Das klingt dystopisch.
Ein Charakteristikum des Anthropozäns besteht darin, dass wir mittels riesiger Infrastrukturen globale Lösungen für lokale Probleme entwickeln und dabei sogenannte „nichtintendierte Nebeneffekte“ aus der Betrachtung ausschließen. Bei der Frage, wie sich etwa durch Atomkraft Energie für die gesamte Menschheit zur Verfügung stellen ließe, wurde die Lagerung des Atommülls als solch ein Nebeneffekt nicht mit berechnet. Ähnliches sehen wir bei künstlichem Dünger. Ammoniak löst Ernährungsprobleme, schafft aber gleichzeitig eine Menge Probleme. Etwa neue ökonomische Abhängigkeiten von Kleinbauern oder die zusätzlichen Nitrate, die das Grundwasser und die Böden kontaminieren. Der Anreiz für globale Lösungen besteht darin, dass sich durch die größeren Absatzmengen die Gewinne in den kapitalistischen Ökonomien erhöht. Die Nebeneffekte, wie zum Beispiel Plastikmüllberge, konnte der Norden lange Zeit in den globalen Süden auslagern. Dies gelingt aber aufgrund der planetarischen Vernetzung nicht mehr. In der anthropozänen Welt gibt es kein Außen mehr. Der Wohlstandsmüll kommt beispielsweise über die Nahrungskette zurück. Aufgrund von Verwüstungen und Überschwemmungen konzentriert sich lebenswertes Leben für immer mehr Menschen auf immer weniger Fläche. Durch diese „nichtintendierten Nebenfolgen“ entsteht eine Welt, der der Mensch als Objekt ausgeliefert ist.
Der Ukraine-Krieg führte uns in den letzten Monaten zahlreiche bestehende Abhängigkeiten vor Augen.
Genau. Wir sehen, dass die Infrastrukturen, die wir erzeugt haben, Abhängigkeiten erzeugt haben, die nicht innerhalb nur einer Gesellschaft lösbar sind. Wenn wir eine neue Technologie entwickeln, überschauen wir nie wirklich alle Implikationen. Heute gelingt es, neue Technikgenerationen zu erzeugen, die sich in einer Zeitspanne von circa zehn Jahren ablösen. Wir sind mittlerweile also an einem Punkt, wo die Realitätserzeugung sehr viel schneller abläuft als die Wissensprozesse, mit denen wir verstehen, was wir tun. Die Herausforderung lautet: Wie damit umgehen?
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Was glauben Sie?
Wenn unser Wissen mit der Realität nicht mithalten kann, stellt sich die Frage, wie wir vermeiden können, Opfer und damit Objekte unserer eigenen Weltherstellung zu werden. Besonders gefährlich sind in dem Kontext Makro-Infrastrukturen wie Öl-, Gas- und Kohleversorgung. Da werden Realitäten erzeugt, die sehr schwer kontrollierbar sind und in der Regel zur gesellschaftlichen Militarisierung führen. Öl wird in dieser Welt zu einer regelrechten Waffe. Wir können heute natürlich nicht in die Vormoderne zurück. Aber was man überlegen könnte, wäre etwa, die Welt in Mikroeinheiten aufzuteilen. Wo einerseits neue Technologien entwickelt werden, die lokale Probleme lösen, und die, falls sie nicht funktionieren, leicht ersetzbar sind, ohne dass gleich die halbe Welt betroffen ist.
Was noch?
Es wäre sinnvoll, dass die Menschen Technologien implementieren, von deren Effekten sie selbst betroffen sind. Ein zentraler Punkt des Anthropozäns ist es, dass die Technologien im Westen entwickelt wurden, die Konsequenzen aber im Süden ankamen. Diese Entkopplung funktioniert heute nicht mehr, wie die Mikroplastik-Problematik zeigt. Es wurde aber dennoch eine extreme Ungleichheit erzeugt. Regionale und lokale Mikroansätze wären besser geeignet, um das Problem der Gerechtigkeit zu lösen.
Die französische Philosophin Corine Pelluchon versucht, die Aufklärung neu zu denken, indem sie sagt, der Mensch müsse nicht nur die Herrschaft über den Menschen beenden, sondern auch die Herrschaft über die Natur. Gehen Ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung?
Es gibt zwei zentrale Probleme mit der Aufklärung. Das eine Problem, das auch in dem neuen Buch von David Wengrow und David Graber eine große Rolle spielt, ist, dass der Menschheitsbegriff auf die westliche Zivilisation bezogen wurde und andere davon ausgeschlossen wurden. Bei John Locke ist die grundlegende Kategorie der Gesellschaft der Besitz. Da waren Ungleichheiten vorprogrammiert. Zentral für das Besitzverständnis von Locke war, dass die Arbeit zum Besitz des Menschen gehört und damit die Bearbeitung des Bodens diesen in den Besitz der betreffenden Person überführt. Auf der Grundlage dieses Besitzbegriffs hatten die indigenen Völker Nordamerikas kein Anrecht auf den Boden, weil sie sich den Boden in den Augen der von Locke geprägten aufklärerischen Gesellschaftstheorie nicht angeeignet hatten. Dies wurde als Argumentation für das koloniale Projekt der Aneignung des Bodens und damit der Ausbeutung indigener Völker benutzt. Gleichzeitig wurde die Natur als Ressource verstanden, die mit der Hilfe rationaler Wissenschaft und der Entwicklung von Technologien ausbeutbar ist.
Sie leiten das HKW seit circa 16 Jahren. Was ist für Sie Ihr wichtigstes Vermächtnis?
Wir haben von Anfang an zwei Linien verfolgt. Einerseits die Frage der Solidarität mit anderen Gesellschaften. Uns war wichtig, Stimmen, die bisher ausgeschlossen waren, Gehör zu verschaffen. Damit eng verbunden war das Anthropozän-Projekt. Es sollte deutlich machen, dass die westliche Entwicklung als eine gesehen werden muss, die uns in eine planetarische Krise geführt hat. Dies bedeutet, dass die westlichen Institutionen nicht mehr als Referenzen benutzt werden können, um Entwicklungen des globalen Südens zu bewerten, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, gemeinsam mit Akteuren des globalen Südens neue Institutionen wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion zu entwickeln.
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Inwiefern hat sich Ihr eigener Blick verändert?
In meiner philosophischen Ausbildung spielte der amerikanische Pragmatismus eine grundlegende Rolle, aber auch die Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der Antike. Es ging dabei immer auch darum, den Bezugsrahmen des eigenen Denkens infrage zu stellen. Heute ist es eine Frage des Überlebens, unsere Gesellschaften und unser Denken unter Einbezug derjenigen, die bisher ausgeschlossen waren, neu zu bestimmen und unsere Beziehung zur Erde und den materiellen Prozessen, deren Teil wir sind, neu zu gestalten.
Das HKW wurde 1989, zeitgleich mit dem Ende der DDR, als Bildungsinstitution gegründet.
Genau, wobei damals noch vom „Ende der Geschichte“ geschwärmt wurde, eine Formulierung, die den Primat des westlichen Wohlstandsmodells festzuschreiben versuchte. Die damalige Randlage im Tiergarten wurde allerdings zu einem Vorteil, weil sie einen ganz anderen Blick auf jenen westlichen Referenzrahmen zuließ.
Das betrifft im HKW bekanntlich immer auch die ästhetischen Formen.
Richtig, weil wir festgestellt haben, dass die Wissensproduktion in den bisherigen Disziplinen nicht mehr in der Form funktioniert, in der sie über zweihundert Jahre operierte. In den neuen Formen der Wissensproduktion spielt die ästhetische Dimension eine grundlegende Rolle, da es darum geht, die Welt neu sehen zu lernen, neue Zusammenhänge zu erkennen.
Wir beobachten seit Jahren eine sich verschärfende Klimakrise und zunehmenden Rechtspopulismus. Wie prägt das Ihre Arbeit konkret?
Die Klimakrise ist eine planetarische Krise. Im Ukraine-Krieg manifestiert sich mit dem Aspekt der Energieversorgung aus Russland gerade nur ein Aspekt dieser Krise. Aber die Verseuchung und der Klimawandel gehen ja immer weiter. Seit zehn bis fünfzehn Jahren haben wir eine verstärkte ökologische Diskussion, und dennoch werden im Autobereich immer mehr SUVs produziert. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann Wissen in gesellschaftliches Handeln übersetzt werden?
Was glauben Sie?
Ich glaube, wir müssen die Logiken aufzeigen, die zu der Krise geführt haben. Das habe ich in meinem Buch versucht. Der nächste Schritt wäre, zu fragen, wie wir weiterkommen. Ein Vorschlag ist, von faktenbasiertem Wissen zu prozessualem Wissen überzugehen. Das würde bedeuten, dass die Fakten einfach immer weiter überarbeitet werden können. Wenn man Wissen in dieser Form versteht, muss man eine Welterzeugung herstellen, die es erlaubt, dass man immer wieder umbauen kann. Unser ganzes Mobilitätssystem – etwa die Autobahn – ist darauf ausgelegt, mindestens 100 Jahre zu halten. Das sind heute inadäquate Strukturen.
Sie sprechen in Ihrem Buch oft über Denkbilder, wie sie in der Kritischen Theorie eine zentrale Rolle spielen. Wie könnte man den Anthropozän-Prozess in einem Denkbild fassen?
An einer Stelle im Buch spreche ich über den Engel der Geschichte von Paul Klee. Das ist ein interessanter Fall, weil er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, aber doch sehr gut die anthropozäne Situation beschreibt. Unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird darin auf den Kopf gestellt. Klassischerweise denken wir ja, die Vergangenheit liege hinter uns und die Zukunft vor uns. Aber was vor dem Engel liegt, ist das Trümmerfeld. Ähnlich liegt der Atommüll vor uns, nicht hinter uns, er verbaut unsere Zukunft. Wir können nicht so tun, als könnten wir einfach von vorne anfangen. Ein anderes Bild wäre das Goya-Bild, in dem Saturn seine Kinder frisst, was dafür steht, dass die Zeit sich selbst auffrisst. Das ist auch eine Erfahrung unserer Gegenwart: Es scheint so, dass wir immer schneller laufen müssen, um auf der Stelle zu bleiben. Burn-Out ist eine Folge davon.
Sie verbinden in Ihrem Buch Ökologie, Naturwissenschaft, Politik, Agrarwirtschaft. Planen Sie, in diese Richtung weiterzuarbeiten?
Was ich in meinem Buch versuche, ist eine Re-Materialisierung geistiger Prozesse zu schaffen. Ich versuche zu zeigen, wie die technologischen Prozesse in Machtasymmetrien verankert sind. Wichtig wäre jetzt, das Verhältnis des postkolonialen Diskurses, also die Perspektive derer, die lange ausgeschlossen waren, zu verbinden mit einer kritischen westlichen Reflexion jener Prozesse. Das zweite wäre, zu überlegen, was neue Denk- und Handlungsmuster sein könnten. Wie Realitätserzeugung in Zukunft aussehen kann.
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Jüngst hat das Programm „Earth Indices“ im HKW begonnen, das über mehrere Monate laufen wird. Worum geht es?
In der Ausstellung geht es darum, aufzuzeigen, wie ein Erdzeitalter hergestellt wird. Also, wie Wissenschaftler die Erde lesen. In den Medien bekommen wir in der Regel immer nur die Ergebnisse präsentiert. Hier wird der Forschungsprozess zur Darstellung gebracht, damit wir verstehen, welche Prozesse eine Rolle spielen. Die von Katrin Klingan kurierte Konferenz „Unearthing The Present“ zeigte jüngst auf, welche Konsequenzen diese Forschung hat.
Sie verschränken also die Herangehensweisen mit den Konsequenzen in der Zukunft.
Nicht nur in der Zukunft, auch in der Gegenwart. Der Grundgedanke des Programms ist, dass das, was physische Realität ist, seit dem 19. Jahrhundert immer mehr durch die Naturwissenschaften definiert wurde. Normale Menschen wissen oft aber gar nicht, wie Wissenschaftler zu ihren Ergebnissen gelangen. Diese Prozesse wollen wir offenlegen, um sie auch gesellschaftlich verhandelbar zu machen.
Bernd Scherer: Der Angriff der Zeichen – Denkbilder und Handlungsmuster des Anthropozäns, Matthes & Seitz, Berlin 2022. 223 Seiten, 28 Euro.
Die Reihe Earth Indices im HKW läuft noch bis Mitte Oktober. Das genauere Programm finden Sie unter www.hkw.de – an diesem Wochenende findet im HKW die Konferenz „Die Zivilisationsfrage“ statt, unter anderem mit dem im Interview erwähnten Autor David Wengrow.
1
Irwin Navigator: Retroprincip 1983-2003
Inke Arns
Am 6. Juni 1992 fand in Moskau auf Initiative der slowenischen Gruppe Irwin (NSK) und des amerikanischen Filmregisseurs Michael Benson im Rahmen der NSK Embassy Moscow1 eine Aktion russischer und ex-jugoslawischer KünstlerInnen und TheoretikerInnen statt: Gemein-sam breiteten sie auf dem Roten Platz vor dem Kreml ein 22 x 22 Meter großes Quadrat aus schwarzem Stoff aus (Black Square on Red Square). Von dieser Aktion existieren außer ein paar Videoaufnahmen und Fotografien weder ein Konzept, noch gibt es, wie bei der russi-schen Gruppe Kollektive Aktionen, systematische Berichte der Teilnehmer und Teilnehme-rinnen. Nur in den in der Dokumentation der NSK Embassy Moscow veröffentlichten Beiträ-gen von Michael Benson und Natal’ja Abalakova wird beiläufig von der Aktion berichtet, an der insgesamt 60-70 Leute beteiligt waren. Unbeteiligte Zuschauer auf dem Roten Platz wur-den zu Akteuren, indem sie den ca. 25 Teilnehmern spontan beim Ausbreiten des Stoffes hal-fen: „Das Schwarze Quadrat, das für den schnellen Transport vom Bus dorthin zunächst wie ein Leichentuch aufgerollt war, wird von zahllosen Händen in drehender Bewegung im Uhr-zeigersinn geöffnet. In der Mitte des Roten Platzes ausgebreitet, wirkt es so, wie Malewitsch es zuerst entworfen hatte: Es ist unergründlich, hat Ausstrahlung und besitzt eine unerklärli-che Macht. Hunderte von Menschen, die sich an seinem Rand sammeln, definieren diesen suprematistischen Archetyp. Sie sehen aus ‚wie ein Haufen Ameisen um einen riesigen Zu-ckerwürfel herum’, wie der Kameramann Ubald Trnkoczy bemerkt.“2
Ziel dieser Ausbreitung des Schwarzen Quadrates im Zentrum der (ideologischen) Macht war die Konfrontation eines ideologischen Systems mit einem in seiner Totalität ebenbürtigen, jedoch nicht ideologischen, sondern explizit künstlerischen System. Dies wird im Titel der Aktion durch die – wohl nur in der englischen Sprache mögliche – Parallelisierung von „Black Square“ und „Red Square“ deutlich. Diese Konfrontation auf dem Roten Platz mit seiner langen Geschichte der Staatsbegräbnisse und Militärparaden war, wie verschiedene Quellen berichten, für alle Teilnehmer ein sehr bewegendes Moment. Entgegen der Annahme, dass die Miliz umgehend eingreifen und die Aktion abbrechen würde, hielten sich die auf dem Roten Platz anwesenden Milizionäre im Hintergrund: „Die Apt-Art-Kuratorin Elena Kurl-jandceva hat Tränen in den Augen. Sie zeigt auf einen Mann der Miliz. ‚Sprecht mit ihm’, sagt sie. ‚Jetzt kann ich endlich glauben, dass die Dinge sich wirklich geändert haben.’ Der uniformierte Beamte ist nicht zu unterscheiden von den Legionären, die einst die Moskauer Botschaften der westlichen Länder abschirmten. ‚Es ist ein schwarzes Quadrat, ein Gemälde’, erklärt er. ‚Ich verstehe dieses Werk nicht – aber ich sehe auch nicht, was daran verkehrt sein sollte.’ Als er zum Balkan befragt wird, sieht er finster aus. ‚Meine Frau und ich machen uns Sorgen um Jugoslawien’, sagt er langsam. ‚Wir sehen uns das jeden Abend im Fernsehen an. Dort sterben Frauen und Kinder … Gott sei Dank passiert so etwas hier nicht.’“3
Als die Gruppe Rrose Irwin Sélavy 1983 gegründet wurde, waren ihre Mitglieder Dušan Mandič, Miran Mohar, Andrej Savski, Roman Uranjek und Borut Vogelnik zwischen 22 und
1 Die NSK Botschaft war Teil des internationalen Apt-Art-Projektes, das 1991-1992 von Viktor Misiano, Lena Kurljandceva und Konstantin Zvezdočetov in Moskau organisiert und durchgeführt wurde.
2 Michael Benson, The Future is Now, in: Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow. How the East Sees the East. Koper, o.J. [1992/93], S. 80-88, hier S. 85.
3 Benson o.J. [1992/1993], S. 86. Da die Aktion nicht von der Miliz abgebrochen wurde, packten die Teilnehmer das Stoffquadrat nach 20 Minuten wieder ein und fuhren mit dem Bus weg. 2
29 Jahre alt. Sie kamen aus der Punk- und Graffiti-Szene Ljubljanas.4 Der Gruppenname, der sich offensichtlich auf Marcel Duchamp5 bezog, und dessen typischer Schriftzug laut Irwin von einem Uhrmacher gleichen Namens aus Cincinnati stammte, wurde bald zu R Irwin S verkürzt – und schließlich 1984, nach Gründung der Neuen Slowenischen Kunst (NSK), zu Irwin. Das erste Projekt, das die Gruppe Anfang 1984 noch unter dem Namen R Irwin S reali-sierte, hatte den Titel Back to the USA und bestand aus einer vollständigen Rekonstruktion (manche würden sagen: Kopie) der zu dieser Zeit unter gleichem Titel durch Westeuropa tou-renden Gruppenausstellung US-amerikanischer Künstler. Zwar besaß dieses Projekt noch nicht die Formensprache, die für Irwin wenig später typisch werden sollte. Allerdings, und das macht diese Projekt so überaus wichtig, nahm es gleichermaßen in einem Handstreich die für die Arbeit der Gruppe Irwin zentrale radikale Kopierstrategie vorweg.
Das Malerkollektiv Irwin kann mittlerweile auf ein 20-jähriges Oeuvre zurückblicken.6 Zu-sammen mit der Musikgruppe Laibach bzw. Laibach Kunst (*1980), dem Theater der Schwestern Scipio Nasicas (*1983, heute: Kosmokinetisches Kabinett Noordung) und der Designabteilung Neuer Kollektivismus (NK) ist sie eine der Hauptgruppen des 1984 gegrün-deten Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK).7
Wie auch die anderen Gruppen ist Irwin – als Abteilung für bildende Kunst der NSK – dem sogenannten „Retroprinzip“ verpflichtet. Dieses Retroprinzip ist „kein Stil oder ein Kunst-trend, sondern vielmehr ein Denkprinzip, eine bestimmte Verhaltens- und Handlungsweise”,8 das manchmal auch „Arbeitsmethode“9 genannt wird. Es bezeichnet eine paradoxe Vorwärts-bewegung in die Zukunft, die sich ausschließlich unter Rückgriff auf die Vergangenheit voll-zieht. Konkret heißt das, dass die in den 1980er Jahren entwickelte Bildsprache des Malerkol-lektivs neben der Übernahme vieler Bildmontagen von Laibach Kunst ausnahmslos aus Zita-ten aus der west- und osteuropäischen Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts besteht. Irwin benutzt Motive des Sozialistischen Realismus und der Kunst des Dritten Reiches, Motive aus der Kunst der verschiedenen europäischen, explizit politisch engagierten Avantgardebewe-gungen (italienischer Futurismus, sowjetrussischer Konstruktivismus) sowie Motive aus der slowenischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Neben religiösen Zitaten übernimmt Irwin die von Laibach Kunst eingeführte leitmotivische Verwendung der Motive des Adlers, des Hirsches, des Sämanns sowie des schwarzen Kreuzes des russischen Suprematisten Kasimir Male-witsch. All diese Zitate unterschiedlichster Provenienz fügt die Gruppe in ihren in traditionel-ler Technik gemalten und mit schweren Rahmen versehenen Ölgemälden zu komplexen und vielschichtigen Montagen zusammen.
Zur Ausstellung
Irwin: Retroprincip 1983-2003 markiert das 20-jährige Bestehen der Gruppe Irwin und ist gleichzeitig die erste große Einzelausstellung der Gruppe in Berlin, 15 Jahre nach ihrer ersten Ausstellung in Deutschland in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf Anfang 1989. Die Aus-
4 Vgl. dazu Aleš Erjavec/Marina Gržinić, Ljubljana, Ljubljana. The Eighties in Slovene Art and Culture, Ljubl-jana 1991 sowie 75’85. Do roba in naprej. Slovenska umetnost 1975-85, Kat. Moderna galerija, Ljubljana 2003.
5 Marcel Duchamp benutzte seit 1920 „Rrose Sélavy“ („Rose – c’est la vie“) als eines seiner weiblichen Pseudo-nyme.
6 Ausführlich zu Irwin vgl. in diesem Katalog: Inke Arns, Irwin (NSK) 1983-2003: Kunstgeschichte als Fiktion. Von Was ist Kunst? über Kapital zum ‚Östlichen Modernismus’.
7 Zur NSK vgl. in diesem Katalog Inke Arns, Mobile Staaten / Bewegliche Grenzen / Wandernde Einheiten: Das slowenische Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK).
8 Vgl. das Manifest „Retroprincip“ von 1984 in diesem Katalog.
9 Irwin, The Program of the Irwin Group (1984), in: NSK 1991, S. 114; zuerst erschienen in: Problemi , Nr. 6, Ljubljana (1985), S. 54 3
stellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 versammelt die wichtigsten Werkkomplexe von Irwin und ermöglicht so – gerade in ihrer Zusammenschau von Projekten der 1980er, 1990er und 2000er Jahre, die durch ein Film- und Videoprogramm zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst ergänzt werden10 – eine umfassende Darstellung eines wandlungsreichen und thema-tisch hochkomplexen Gesamtwerkes. Sie ist damit nicht nur für Berlin, sondern deutschland- und europaweit eine Premiere.
Seit 1983 setzt sich die Gruppe Irwin in ihren künstlerischen Projekten umfassend mit der Kunstgeschichte Osteuropas auseinander, speziell mit dem ambivalenten Erbe der histori-schen (russischen, aber auch südslawischen) Avantgarde und ihren totalitären Nachfolgern, also mit der Dialektik von Avantgarde und Totalitarismus. Nach der Erarbeitung einer eige-nen Bildsprache in ihren Appropriations-Projekten der 1980er Jahre11 konzentriert sich die Gruppe seit den 1990er Jahren auf die kritische Hinterfragung der Kunstgeschichte des ‚west-lichen Modernismus‘. Diesem stellen sie mit der ‚Retroavantgarde‘ einen fiktiven ‚östlichen Modernismus‘ gegenüber, der durch seine eigene offensichtliche Konstruiertheit auf die Kon-struiertheit westlicher Schemata der Kunstgeschichte verweist, von denen zeitgenössische Kunst aus Osteuropa nach wie vor ausgeschlossen bleibt. Ziel eines der neuen Projekte von Irwin ist es daher auch, eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwi-schen 1945 und 2002 anzuregen, und zwar jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung‘ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen (East Art Map, 2002).
Während Irwin in den letzten zehn Jahren international sehr präsent war, ist die Gruppe in Deutschland neben Galerie-Ausstellungen (Inge Baecker, Köln) und einigen Ausstellungsbe-teiligungen12 noch nie in einer größeren, die letzten 20 Jahre umfassenden Einzelausstellung präsentiert worden. Seit der Anfang 1989 von Jürgen Harten kuratierten Ausstellung Ir-win/Neue Slowenische Kunst in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf13 sind 15 Jahre ver-gangen, in denen die Gruppe Irwin – nicht zuletzt angeregt durch die politischen Veränderun-gen und Verwerfungen seit 1989 – ihre Konzepte der 1980er Jahre (‚Retrogarde‘, ‚Überidenti-fizierung‘) überarbeitet und wichtige Projekte und neue Konzepte für die 1990er und 2000er Jahre entwickelt hat. Hier sind besonders der 1991 gegründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) mit seinen temporären Botschaften (u.a. 1992 in Moskau), das 1996 durchgeführte Transnacionala-Projekt, die Initiierung der East Art Map (2002) sowie Irwins langjähriges Engagement für die Einrichtung von Sammlungen osteuropäischer Kunst auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (aktuell: ArtEast 2000+ Collection, Moderna galerija, Ljubljana) zu nennen. Diese Projekte haben durchweg zum Ziel, eine Auseinandersetzung des Ostens bzw. Osteuropas mit sich selbst zu initiieren – treffender Weise hat Irwin die Dokumentation der NSK Embassy Moscow (1992) mit „How the East Sees the East“ untertitelt. Es ist dieser Blick auf die eigene (osteuropäische) Kunstgeschichte, der Irwin so spannend macht – gerade auch im Kontext der in Berlin parallel stattfindenden Ausstellung Berlin – Moskau, Moskau – Ber-lin 1950 – 2000. Nach der Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien in Berlin wandert die Aus-stellung weiter in das Karl Ernst Osthaus-Museum nach Hagen und anschließend in das Mu-seum of Contemporary Art in Belgrad.
10 Goran Gajić, Pobjeda pod Suncem (Sieg unter der Sonne, 60 min., 1987); Marina Gržinić / Aina Šmid, Tran-scentrala – NSK Država v času (20:05 min., 1993); Peter Vezjak/Retrovizija (NSK), Bravo – Laibach in Film (53 min., 1993); Michael Benson, Predictions of Fire (95 min., 1995); Marina Gržinić / Aina Šmid, Postsocialism + Retroavantgarda + Irwin (22:05 min., 1997).
11 Vgl. Inke Arns, Neue Slowenische Kunst (NSK) – eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien, Regensburg 2002.
12 z.B. unfrieden, Hamburg 1996; After the Wall, Stockholm/Berlin 1999/2000; Vulgata – Kunst aus Slowenien, Berlin 2001; Museutopia, Hagen 2002.
13 Übernahme aus dem Centre National des Arts Plastiques, Paris. 4
Irwin Navigator: Katalogbuch und Anthologie
Das Katalogbuch, das anlässlich der Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 erscheint, hat mehrere Ziele. Es versammelt, erstens, die wichtigsten Artikel und Texte, die in den letzten fünfzehn Jahren zu Irwin und zur Neuen Slowenischen Kunst geschrieben worden sind. Eine solche Zusammenstellung erschien sinnvoll, da viele dieser Texte und Artikel verstreut in Katalogen, Zeitschriften oder Büchern erschienen sind, die heute teilweise vergriffen oder gar nicht mehr verfügbar sind. Zweitens macht das vorliegende Katalogbuch durch seine konse-quente Zweisprachigkeit viele Texte zum ersten Mal in deutscher bzw. in einigen Fällen in englischer Übersetzung zugänglich. Und drittens bietet es dem Leser bzw. der Leserin durch seine thematischen Unterteilungen, die im April 2003 gemeinsam mit Irwin in Ljubljana erar-beitet wurden, rote Fäden durch das komplexe Gesamtwerk der Gruppe. Anhand dieser vier übergreifenden Themenkomplexe – „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrogra-der pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“ – kann in der vorliegenden Publikation verfolgt werden, wie sich die verschiedenen thematischen Schwer-punkte innerhalb der Arbeit von Irwin im Laufe der Zeit verändern, eine Erweiterung erfahren oder in ganz neuen Kontexten wichtig werden.14
Den einzelnen thematischen Clustern des Kataloges sind sowohl Texte und Aufsätze ver-schiedener Autoren, Manifeste der Gruppe Irwin als auch Werkgruppen der Künstler zuge-ordnet. Die Texte sind dabei so angeordnet, dass die Kapitel jeweils mit den zeitlich jüngsten, teils speziell für die aktuelle Ausstellung geschriebenen Texten beginnen (Daniel Spanke, Gregor Podnar) und mit den ältesten enden. Texte, Manifeste und Werke sind außerdem durch hypertextuelle Links verbunden, die – trotz der linearen Organisation des Mediums Buch – non-lineare Lesarten von Irwins Oeuvre ermöglichen. Diese hypertextuelle Verlinkung mit anderen Texten, Arbeiten oder Kontexten ergab sich aus der Einsicht, dass sich einzelne Ar-beiten nur schwer auf ein einziges Thema beschränken lassen.
Das Katalogbuch ist, wie bereits erwähnt, in vier thematische Kapitel aufgeteilt: „Destruktion und Konstruktion (Ideologie)“, „Rétrograder pour mieux sauter“, „Verbindungen schaffen“ und „Östlicher Modernismus“. An das vierte Kapitel schließt sich ein weiterer Teil mit sechs Interviews an, die verschiedene AutorInnen zwischen 1988 und 2000 mit Irwin geführt haben. Eine ausführliche Bio- und Bibliographie zu Irwin sowie Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren und ein Quellennachweis der in dieser Anthologie enthaltenen Texte schließen die Publikation ab.
Destruktion und Konstruktion (Ideologie)
Das erste übergreifende Kapitel beleuchtet vor allem die gesellschaftskritischen Aspekte, die die Gruppe Irwin mit dem Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) – und hier ins-besondere mit der Gruppe Laibach und der Designabteilung Neuer Kollektivismus – verbin-den. Destruktion (oder Kritik) gab und gibt sich bei Irwin und der NSK immer als Konstrukti-on (oder Affirmation), und Affirmation entpuppt sich als schwer zu überbietende Kritik des Systems und seiner Ideologie. In den 1980er Jahren äußerte sich die Taktik der Neuen Slowe-nischen Kunst weder in einem offen kritisierenden Diskurs gegenüber dem Staat und der I-deologie noch in der Distanzierung zur Ideologie durch ironische Negation (Stichwort Dissi-denz). Es ging im Gegenteil um eine Wiederholung, um eine Aneignung von Bestandteilen
14 Die Ausstellung selber folgt nicht den vier übergreifenden Themenkomplexen des Kataloges, sondern kon-zentriert sich auf die Präsentation der wichtigsten Werkkomplexe der Gruppe. 5
und Versatzstücken der offiziellen Ideologie, um ein Spiel mit diesen ‚ready mades’, um ein Aufnehmen vorhandener Herrschaftscodes, um – so Laibach – „diesen Sprachen mit ihnen selber [zu] antworten.“15 Es handelte sich um eine subversive Strategie, die der slowenische Philosoph und Lacanier Slavoj Žižek als radikale „Überidentifizierung“16 mit der ‚verdeckten Kehrseite’ der die gesellschaftlichen Beziehungen regulierenden Ideologie bezeichnet hat. Die NSK trat – unter Verwendung aller durch die offizielle Ideologie explizit und implizit vorge-gebenen Identifikationsmomente – als eine Organisation auf, die noch „totaler als der Totali-tarismus“ (Boris Groys) zu sein schien – ein provokativer Verweis auf das politische System Jugoslawiens.17
Ein gutes Beispiel für diese Art von „subversiver Affirmation“, also für eine Taktik, die es erlaubt, an bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Diskursen teilzunehmen, diese zu bestätigen, sie sich anzueignen oder zu konsumieren und dabei gleichzeitig zu unterwan-dern,18 ist der sogenannte Poster-Skandal. Der Neue Kollektivismus (NK), die Designabtei-lung der NSK, löste 1986/87 einen – international beachteten – Skandal aus, als er für den Tag der Jugend (Dan Mladosti), der alljährlich an Titos Geburtstag begangen wurde, ein auf einem Nazi-Plakat basierendes Poster zum Wettbewerb einreichte und dieses von einem hochoffiziellen all-jugoslawischen Komitee – ihm gehörten Vertreter des Bundes der sozialis-tischen Jugend Jugoslawiens, der jugoslawischen Volksarmee und des Bundes der Kommu-nisten Jugoslawiens an – prompt mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Das Plakat des NK bestand aus einer leicht veränderten Version des Bildes Das dritte Reich. Allegorie des Heldentums (1936) von Richard Klein und zeigte einen mit Stafette, jugoslawischer Fahne und anderen Staatsinsignien ausgerüsteten, siegesgewiss in die Zukunft schreitenden Jüngling. Das Komitee lobte das Poster des Neuen Kollektivismus und begründete die Preisvergabe damit, dass der Entwurf „die höchsten Ideale des Jugoslawischen Staates ausdrückt.“19 Umso peinlicher, dass nach Aufdeckung der Bildquelle die jugoslawischen Bundesbehörden einen politischen Prozess wegen „Verbreitung faschistischer Propaganda“ gegen den NK anzustren-gen versuchten, der aber von den slowenischen Behörden abgewendet werden konnte (hier zeigten sich bereits Unstimmigkeiten zwischen der [zunehmend illiberalen] jugoslawischen Bundesebene und der [liberaleren] slowenischen Republikebene, die gegen Ende der 1980er Jahre schließlich auch zu einem faktischen Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderati-on führen sollten). Die slowenische Kunsthistorikerin Lilijana Stepančič nimmt in ihrem Bei-trag eine ausführliche Analyse des Poster-Skandals vor, in dessen Folge der Tag der Jugend abgeschafft wurde.
Meint man jedoch nun, dass sich Irwin und die NSK an tagespolitischen Ereignissen abgear-beitet hätten, wäre dies gewiss ein ganz falscher Eindruck. Irwin/NSK haben immer wieder betont, dass es ihnen nicht so sehr um eine Kritik des Bestehenden ging, sondern dass ihnen primär der Aufbau und die Konstruktion von etwas Eigenem wichtig war (was natürlich eine durchaus komplexe Kritik der Verhältnisse darstellt). Schließlich, so ließen die Mitglieder von Irwin in den 1980er Jahren nicht nur einmal verlauten, seien sie keine Dissidenten, sondern „Staatskünstler“. Dieses ostentativ zur Schau gestellte Desinteresse an einer direkten Kritik
15 Laibach, zit. nach: Claudia Wahjudi, Zwölf Jahre musikalische Zitatenschlacht zwischen zwei konträren Sys-temen. Interview mit ‚Laibach’, in: Neues Deutschland, 13.8.1992.
16 Slavoj Žižek, Why are Laibach and NSK not Fascists?, in: M’ARS – Časopis Moderne Galerije V/3.4 (1993), S. 4.
17 Vgl. Alenka Barber-Kersovan, ‚Laibach’ und sein postmodernes ‚Gesamtkunstwerk’, in: Helmut Rösing (Hg.), Spektakel / Happening / Performance. Rockmusik als ‚Gesamtkunstwerk‘, Mainz 1993, S. 66-80.
18 Vgl. ausführlich dazu Inke Arns/Sylvia Sasse, Affirmation und Widerstand, 2004 [in Vorbereitung].
19 Vgl. The Economist, London, 14. März 1987, S. 49 und Profil, Wien, 13. April 1987, S. 56, zit. nach: Pedro Ramet, “Yugoslavia 1987: Stirrings from Below”, in: The South Slav Journal, Vol. 10, Nr. 3, Jg. 37 (Herbst 1987), S. 34. 6
der politischen Situation der 1980er Jahre hat in den Organigrammen, also den internen Auf-bau- und Funktionsschemata von Laibach Kunst bzw. der NSK (1984) eine ästhetische Form angenommen. Die Gruppen Irwin und NSK begriffen sich nämlich in den 1980er und 1990er Jahren als explizit staatsähnliche soziale Gefüge, die einen Ausgleich für das Fehlen eines Kontextes darstellten. Dies wird besonders deutlich in der für die Ausstellung neu erarbeiteten Installation Retroprinciple (2003), in der die Gruppe Irwin ihre Projekte der 1990er Jahre un-ter dem Motto „Konstruktion des Kontextes“ subsumiert.
Parallel zur Unabhängigkeitserklärung Sloweniens erfolgte 1991 die Gründung des NSK Staa-tes in der Zeit. Dabei handelt es sich um ein künstlerisches Staatsgebilde ohne ‚reales’ Terri-torium und ohne Staatsnation, das sich in zeitlichen Abständen an verschiedenen Orten in Form einer ‚Botschaft’ oder eines ‚Konsulates’ materialisiert. Außerdem stellt der NSK Staat auf Antrag Reisepässe aus, die als „confirmation of temporal space“ (NSK) gelten und von jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder Nationalität erworben werden können. Verschiedene Quellen berichten, dass während des Krieges in Bosnien-Herzegowina in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einigen Personen mittels dieses NSK-Reisepasses die Überquerung internationaler Grenzen geglückt sein soll – was ihnen sonst, in Ermangelung offizieller Dokumente ihres (noch) nicht anerkannten Staates, nicht gelungen wäre. Die Ap-propriation staatlicher Hoheitszeichen wie Botschaften, Konsulate, Pässe und anderer Insig-nien (z.B. Briefmarken), die temporäre Übernahme von Territorien und ganzer Armeen exis-tierender Staaten (NSK Garda) stellt ein ebensolches ambivalentes, weil gleichzeitig affirma-tives und widerständiges Konzept dar: Dieser Staat stellt durch seine bare ‚Existenz’ (die ei-gentlich eine ‚Nicht-Existenz’ ist) die Logik anderer bestehender staatlicher Gebilde in Frage.
Rétrograder pour mieux sauter
Das zentrale „Denkprinzip“ der Gruppe Irwin, auf dem alle ihre in diesem – zweiten – Kapitel dokumentierten Arbeiten beruhen, besteht in einer paradoxen, sich vorwärts schraubenden und Schleifen durch die Vergangenheit ziehenden Bewegung in die Zukunft. Während man mit den Begriffen ‚Sampling’ und ‚Loop’ die paradoxen Bewegungen der Gruppe auf einer linearen Zeitschiene charakterisieren kann – als Wiederholungen, denen es um ein Insistieren, ein Sich-Verhalten-Zu-Etwas, eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“ (Kierkegaard) geht – verweist der Begriff des Palimpsestes auf die Methode, nach der Irwin bestimmte Motive auswählt, sowie auf das Prinzip der ‚Verräumlichung’ zeitlich tiefer Schichtungen, nach dem die Gruppe ihre Bilder aufbaut.
‚Sampling’ bezeichnet im engeren Sinne in der Musik die Verwendung bzw. das Zitieren ‘vorgefundener’ Musikstücke, Bruchstücke oder Sounds. Im Gegensatz zum quasi selbstrefe-rentiellen („dionysischen“) Sampling, das Samples als Material zur Schaffung von Geräusch-texturen und -architekturen benutzt, ähnelt die Verwendung von Zitaten auf den Bildern von Irwin eher einer „fetischistischen“ Samplingmethode.20 Bei dieser Art des Samplings ist der Sample ein referentielles Objekt, das ausgewählt wird, weil es eine bestimmte Bedeutung hat – hier findet Erkenntnis durch Wiederholung statt. Das ‚Loopen’ erzeugt darüber hinaus eine Wiederholung, die „zugleich linear und zyklisch ist, eine Spiralbewegung, die Vergangenheit
20 Diedrich Diederichsen unterscheidet „nichtbedeutendes“ oder „dionysisches“ Sampling von „bedeutendem“ oder „fetischistischem“ Sampling. Während beim „dionysischen“ Sampling das Geräusch oder der Klang so lange wiederholt, isoliert und auch manipuliert wird, dass er nur noch auf sich selbst verweist, verwendet die andere Samplingmethode Geräusche und Klänge, die in einen „Zusammenhang gebracht werden sollen mit Ge-schichte, Bedeutungen, Positionen, Parteilichkeiten etc.” (Diedrich Diederichsen, „Zur musikalischen Technik in HipHop und Techno“, in: contd <http://www.art-bag.net/contd/issue2/dd.htm>. Vortrag am 13.6.1997 in der Akademie der Künste Berlin im Rahmen der Vortragsreihe ”Musik im Dialog”). 7
wiederholt, um Zukunft zu gewinnen, eine offene Schleife, die ihre Wirkungen als Ursache rückkoppeln kann.”21 Wiederholung ist bei Irwin (nachträglich) prospektive Erinnerung – nämlich eine „gegenwärtige Öffnung des Vergangenen auf Zukunft hin.“22
Mit dem Begriff des Palimpsests23 dagegen lassen sich zweierlei Dinge bezeichnen, die je-doch eng miteinander verbunden sind: einmal das Auswahlprinzip, nach dem die Gruppe Ir-win bestimmte Bilder (‚Prätexte’) für ihre Arbeit auswählt und zum anderen das produktions-ästhetische Verfahren, das auf den Bildern zur Anwendung kommt. Die Gruppe Irwin ver-wendet auf ihren Bildern nicht beliebige historische Versatzstücke, sondern wählt gezielt die-jenigen Bilder und Zeichen aus, denen im Lauf der Zeit und durch sich wandelnde Kontexte zusätzliche Bedeutungen und Konnotationen zugekommen sind. Diese Konnotationscluster oder Bedeutungsverdichtungen werden vor allem von bzw. an Zeichen gebildet, die rückbli-ckend solche Punkte in der Geschichte bezeichnen, an denen das Umschlagen von genuin utopischen Ansätzen in traumatische Erfahrungen festzumachen ist. Vor allem die von Irwin verwendeten Zitate aus der (sowjetrussischen) künstlerischen Avantgarde transportieren ne-ben ihrer ursprünglichen utopischen Bedeutung eine zweite Bedeutungseben, die vom Schei-tern eben dieser künstlerischen Utopien kündet: Die Zeichen werden neben der Beibehaltung des ursprünglichen Textes zu traumatischen Texten.
Wird ein solches Zeichen, Bild oder ein solcher Text wiederholt, werden neben der ursprüng-lichen Bedeutung gleichzeitig alle weiteren an dieses Zeichen angelagerten Bedeutungen bzw. Konnotationen aufgerufen. Genau diese Anreicherung mit immateriellen Schichten, dieses Mitnehmen der zusätzlich durch die Zeit akkumulierten Bedeutungen, lässt die ‚Texte’ zu schillernd mehrdeutigen und ambivalenten Zeichen werden, die in den Wiederholungen durch Irwin endlos zwischen ihren verschiedenen, oft auch widerstreitenden Bedeutungs- und Kon-notationsschichten changieren.
Die nachträglichen ‚Konnotationsakkumulationen’ sind somit einerseits Kriterium für die Auswahl bestimmter Bilder, andererseits rekonstruiert bzw. visualisiert die Gruppe Irwin in ihren Bildern, die man auch als „theoretische Objekte“24 bezeichnen könnte, diese eigentlich unsichtbaren Konnotationsschichten: zunächst, indem sie die übereinandergeschichteten und einander widersprechenden Texte entzerrt, dekomprimiert, verräumlicht, und dann, indem sie diese historischen Schichten und Konnotationen in Bildmontagen sichtbar macht und so in einen Dialog miteinander bringt. So verdeutlicht z.B. die Gegenüberstellung von einander diametral entgegengesetzten Zeichen in der Aktion Black Square on Red Square oder auf dem Bild Malewitsch zwischen zwei Kriegen die ambivalenten Bedeutungen von Bildzitaten der historischen Avantgarde in Form einer expliziten Ausformulierung dieser in der Avantgarde konfligierenden Bedeutungen. Irwin macht also mit der ‚Verräumlichung’ von Palimpsesten
21 Martin Conrads, „Samplermuseum“, in: Kunstforum International, Der gerissene Faden. Nichtlineare Techni-ken in der Kunst, hg. v. Thomas Wulffen, Bd. 155 (Juni-Juli 2001), S. 216-221, hier: S. 217f.
22 Eckehard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995, S. 19.
23 Ein klassisches Palimpsest ist eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift, bei Papyrus durch Abwi-schen, bei Pergament durch Radieren mit Bimsstein, beseitigt und durch eine jüngere ersetzt ist. Das Löschen der vorhergehenden Schrift(en) ist jedoch nie so total, dass die früheren Texte vollkommen verschwinden würden. Der Begriff des Palimpsestes steht – neben seiner klassischen Bedeutung – auf abstrakterer Ebene für eine Kon-zentration historischer, in Simultaneität gegebener Schichtungen. Diese bestehen aus „Überlagerungen divergen-ter, konfliktuöser historischer Schichten“, die den Leser bzw. Betrachter mit „derart massive[n] Widerstände[n]“ konfrontieren, dass die „Selbstreflexion des Lesens umschlägt in eine kommentierende Archäologie historischer Strata und deren Brüche, Interferenzen, Verschleifungen“. (Lobsien 1995, S. 81-82).
24 Peter Weibel, Probleme der Neo-Moderne, in: Ders. (Hg.), Identität : Differenz. Tribüne Trigon 1940 – 1990. Eine Topographie der Moderne, Kat. Graz 1992, S. 3-21, hier S. 20. 8
die Konflikte zwischen unterschiedlichen historischen Diskursen sichtbar.25 Die New Yorker Kunstkritikerin Kim Levin sagt daher über Irwin zu Recht: “Their paintings are full of conflicting pasts.”26
Dies kommt in Irwins bis heute mit über 500 Ölbildern wohl umfassendster Serie Was ist Kunst (seit 1985) am deutlichsten zum Ausdruck. 1996 begann die Gruppe in der Installation Irwin Live mit dem Herausdestillieren einzelner Motive aus ihrem über mehr als zehn Jahre zusammengetragenen reichen Bildfundus. Seit 1998 bezeichnet sie die so gewonnenen sechs Motive und die dazugehörigen ikonografischen Reihen als Irwin Ikonen. Die beiden Katalog-beiträge der Kunsthistoriker Daniel Spanke und Igor Zabel widmen sich ausführlich diesem neuen Werkkomplex. Mit der Installation Was ist Kunst Slowenien (2001) ging die Gruppe dazu über, nicht mehr die von ihr kollektiv gemalten, aus der europäischen Kunstgeschichte zitierenden Bilder auszustellen, sondern direkt Originale verschiedener Künstler aus Privat- und Museumssammlungen in typische Irwin-Rahmen zu fassen. Für die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 wird erstmalig die Installation Was ist Kunst Deutschland (2003) mit Leihgaben realisiert, die die deutsche Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Zusammen mit der dritten und letzten Version Was ist Kunst Russland, die in naher Zukunft produziert werden soll, erstellt Irwin so ein Panorama der für die Gruppe wichtigen kulturel-len Einflüsse und Bezüge.
Verbindungen schaffen
Für Künstler, die wie Irwin in Gruppen oder Kollektiven arbeiten, ist das Thema des „Schaf-fens von Verbindungen“ (3. Kapitel) ohne Zweifel ein besonders wichtiges. Dabei lassen sich zwei große Phasen voneinander unterscheiden: Während Irwin und die NSK in den 1980er Jahren selbst zu ihrem eigenen sozialen Kontext wurden und ihr Interesse folglich nach innen gerichtet war – das Kollektiv kommunizierte nur durch ‚Nicht-Kommunikation’ mit einem ‚Außen’ – öffnet sich die Gruppe (hier vor allem Irwin) in den 1990er Jahren zunehmend und lädt externe Teilnehmer – Kuratoren-Kollegen, aber auch befreundete Künstler – zur Mitar-beit an Projekten ein. War die Perspektive in den 1980er Jahren vor allem eine lokale, weitete sie sich in den 1990er Jahren auf eine globale, die vor allem die Situation Osteuropas im Blick hat.
Zentral für Irwins Netzwerkstrategie der 1990er Jahre sind in dieser Hinsicht der 1991 ge-gründete NSK Država v času (NSK Staat in der Zeit) und das Transnacionala-Projekt von 1996. Das Konzept des immateriellen NSK Staates in der Zeit führt weg von dem für die 1980er Jahre gültigen Selbstverständnis der NSK als hermetischer und statischer Entität. Es betont im Gegensatz dazu das Moment der Kommunikation, der offenen Interaktion, der Be-wegung, des Erfahrungsaustausches und des Netzwerkens. Im Rahmen der NSK Embassy Moscow (1992) z.B. reisten die Mitglieder der NSK gemeinsam nach Moskau und eröffneten in einer Privatwohnung eine temporäre ‚Botschaft’ des NSK Staates in der Zeit. Dort fanden während eines Monats im Rahmen von Vorträgen von Irwin als auch Vorträgen eingeladener TheoretikerInnen und Künstler Diskussionen zur Funktion und Bedeutung der Kunst der 1980er Jahre in Jugoslawien und der Sowjetunion statt. Das Projekt wurde in der Publikation NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East dokumentiert.27
25 Vgl. dazu ausführlich Inke Arns, Objects in the Mirror may be Closer Than They Appear: Die Avantgarde im Rückspiegel, Phil.-Diss., Humboldt-Universität zu Berlin 2003 [unveröffentlichtes Typoskript].
26 Kim Levin über Irwin, in: Michael Benson (Regie), Predictions of Fire, Dokumentarfilm über die NSK, 16 mm-Film (Produktion: RTV Slovenija & Kineticon Pictures), 90 min., Ljubljana 1995.
27 Eda Čufer (Hg.), NSK Embassy Moscow: How the East Sees the East, Koper o.J. [1992/93]. 9
Im Sommer 1996 startete eine internationale Gruppe von zehn Künstlern (Alexander Brener, Vadim Fiškin, Jurij Lejderman, Michael Benson, Eda Čufer und die fünfköpfige Irwin-Gruppe) in zwei Wohnmobilen zu einer einmonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten. Dieses Projekt, das von den Reisenden ein Zusammenleben auf engstem Raum forderte (zehn Leute auf zehn Quadratmetern), wurde zu einer „experimentellen, existentiellen Situation“ (Eda Čufer) für die TeilnehmerInnen. Ziel dieser Reise war es, sich über Kunst, Theorie und Politik im Kontext zeitgenössischer Kunst auszutauschen. Während der Fahrt über die ameri-kanischen Highways, auf Rastplätzen, in Motels, in der Mojave Wüste und am Grand Canyon diskutierte die Gruppe über diese Themen sowie über die (Un-)Möglichkeit einer osteuropäi-schen Identität in der Kunst. Zwischendurch wurden Stationen in Atlanta, Richmond, Chica-go, San Francisco und Seattle gemacht, an denen diese Themen mit VertreterInnen lokaler Künstlercommunities diskutiert wurden. Das Reiseprojekt ist in der 1999 von Eda Čufer herausgegebenen Publikation Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art dokumentiert worden.28
Diese auf Vernetzung und Austausch angelegten Projekte der 1990er Jahre – Viktor Misiano nennt sie „konfidentielle Projekte“29 – zeugen von einem grundlegenden Wandel des Begriffs Kommunikation insofern, als nicht mehr nur intern innerhalb der Gruppe (als Ersatz eines nichtvorhandenen ‚Außen’) kommuniziert wird, sondern sich im Gegenteil das gesamte Selbstverständnis der Gruppe hin zu einem Hersteller von Kommunikation gewandelt hat.
Östlicher Modernismus
Das vierte Kapitel der vorliegenden Anthologie widmet sich den Versuchen der Gruppe Irwin, aktiv in die nach wie vor gültige ‚große Erzählung’ der westlich dominierten Kunstgeschichte einzugreifen. So konstruiert z.B. Irwins Installation Retroavantgarde für den geographischen Raum Jugoslawiens eine fiktive Kunstrichtung der „Retroavantgarde“, deren Wurzeln auf verschiedenen Schaubildern und anhand der Arbeiten angeblich dieser Richtung angehörender Künstler bis in die 1910er bzw. 1920er Jahre zurückverfolgt werden können. Retroavantgarde „ist ein komplexes künstlerisches Statement, das über das Fehlen eines stabilen kunsthistori-schen Narrativs moderner und zeitgenössischer Kunst in Slowenien, Jugoslawien und generell in Osteuropa reflektiert. Die künstlerischen Errungenschaften dieser Regionen haben es nicht geschafft, Teil des westlichen Kanons zu werden oder selbst ihr eigenes konsistentes Meta-Narrativ zu entwickeln.“30
Als Reaktion auf diesen doppelten Mangel greift die Gruppe mit einer für sie typischen Geste auf einen für die Definition und Herleitung des Modernismus zentralen Baustein zurück: auf Alfred H. Barrs Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935.31 Dieses 1936 vom Gründungsdirektor des New Yorker Museums of Modern Art (MoMA) entwickelte Dia-gramm fasst im Sinne einer ästhetischen Evolutionstheorie die europäischen Avantgardebe-wegungen als Vorläufer der (geometrischen wie nicht-geometrischen) abstrakten Kunst des Modernismus auf. Mit einer ähnlich anmaßenden Haltung überträgt Irwin dieses Schema nun auf Jugoslawien, hier allerdings in Form einer umgekehrten Genealogie der „Retroavantgar-
28 Eda Čufer (Hg.), Transnacionala. Highway collisions between East and West at the Crossroads of Art, Ljubl-jana 1999. Zur Irwins Installation Transnacionala vgl. Inke Arns, Transnacionala as lieu de mémoire, or: Ceci n’est pas un monument, unveröffentlichtes Typoskript (März 2000).
29 Vgl. Viktor Misianos Text „Die Institutionalisierung der Freundschaft“ in diesem Katalog.
30 Roger Conover/Eda Čufer, Irwin, in: Roger Conover/Eda Čufer/Peter Weibel (Hg.), in search of Balkania. A manual, Graz 2002, S. 66-70, hier S. 67.
31 Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, The Barr Effect. New Visualizations of Old Facts, in: Branislav Dimitrijević, Dejan Sretenović (Hg.), International Exhibition of Modern Art featuring Alfred Barr’s Museum of Modern Art, New York, Belgrad 2003, S. 49-59. 10
de“, die von der Neo-Avantgarde der Gegenwart bis zur Periode der historischen Avantgarde zurückreicht.
Darüber hinaus entwickelt Irwin als Alternative zu den großen Erzählungen des Westens die Strategie des ‚Östlichen Modernismus’, die die Gruppe erstmals 1990 im Kontext der Ausstel-lungsreihe Kapital32 formulierte. Indem die Gruppe die Existenz eines ‚Östlichen Modernis-mus’ behauptet, greift sie auf polemische Weise den sich selbst als universal gültig setzenden Modernismus der Barrs und Greenbergs an. Mit der Partikularisierung des Begriffs suggeriert Irwin indirekt, dass es sich beim Modernismus eigentlich um einen ‚Westlichen Modernis-mus’ handelt, der eben nicht universale Gültigkeit hat.
Als neuer, ‚Östlicher Modernismus’ soll die Retroavantgarde nun der sich universal gebenden westlichen Partikularität entgegengesetzt werden. Mit der Installation Retroavantgarde, die sowohl ein eigenständiges Kunstwerk als auch ein kartografisch-pragmatisches Instrument ist und 1997 erstmals in der Kunsthalle Wien gezeigt wurde, setzt Irwin das um, was (nicht nur) Osteuropa über lange Zeit (sowohl lokal durch die spezifische politische Situation als auch durch den bereits erwähnten internationalen Diskurs) verwehrt war: eine eigene und eigen-ständige Kunstgeschichtsschreibung. Irwin (re)konstruiert bzw. setzt einen Osteuropa eigenen Modernismus, indem die Gruppe die Existenz einer fiktiven jugoslawischen Retroavantgarde-Bewegung postuliert. Allerdings stellt sich heraus, dass dieser ‚östliche Modernismus’ min-destens genauso konstruiert, fiktiv und künstlich ist wie sein westliches Pendant.
Neben künstlerischen Installationen stellen Kunstsammlungen im Allgemeinen und Samm-lungspolitik im Besonderen für Irwin ein bevorzugtes Instrument dar, um aktiv in die Kunst-geschichte einzugreifen. Da die „Logik der Sammlung“33 für die Unsichtbarkeit zeitgenössi-scher osteuropäischer Kunst im Westen34 verantwortlich gemacht wird, gilt es nicht nur, die westliche Sammlungslogik zu kritisieren, sondern dieser eine eigene „Logik der Sammlung“ entgegenzustellen. Die Gruppe wirkt daher seit Ende der 1980er Jahre an der Gründung ver-schiedener Kunstsammlungen mit (FRA-YU-KULT, Sarajevo 2000 und 2000+ ArtEast) und hat mit einem ihrer jüngsten Projekte (East Art Map – A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, 2002) unter dem Motto „History is not given. It has to be constructed”35 eine kritische (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte Osteuropas zwischen 1945 und der Gegenwart initiiert, die sich jenseits (ex-)sozialistischer offizieller Chroniken, nationaler ‚Legendenbildung’ und fragmentierter, im Westen vorhandener Informationen be-wegen soll.
Ermöglicht wurde diese Anthologie – wie auch die Ausstellung Irwin: Retroprincip 1983-2003 – durch eine großzügige Zuwendung der Kulturstiftung des Bundes. Christoph Tannert, künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien (Berlin), begeisterte sich frühzeitig für dieses Projekt und schlug vor, die Ausstellung parallel zu Berlin – Moskau, Moskau – Berlin 1950-2000 im Künstlerhaus Bethanien stattfinden zu lassen. Die Übernah-men der Ausstellung durch das Karl Ernst Osthaus-Museum (Hagen) und das Museum of Contemporary Art (Belgrad) sind der Initiative von Dr. Michael Fehr, Direktor des Karl Ernst
32 Irwin, Kapital, Kat. Ljubljana 1991. Die erste Ausstellung im Rahmen von Kapital fand im Dezember 1990 in der Equrna galerija in Ljubljana statt.
33 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung, München/Wien 1997, S. 159.
34 Diese Unsichtbarkeit hat wesentlich mit dem ‚westlichen’ Blick zu tun, der eigene Partikularitäten zu universal gültigen Wertmaßstäben verklärt: Wenn zeitgenössische osteuropäische Kunstproduktionen von den uns bekann-ten Mustern abweichen, sind sie provinziell und damit uninteressant. Wenn sie sich jedoch mit unseren bekann-ten Vorbildern messen können und diesen zu ähneln scheinen, so ist das dem westlichen Blick ein Beweis für ihre Unoriginalität (vgl. Groys 1997, S. 159).
35 Irwin, East Art Map – A (Re)Construction of the History of Contemporary Art in Eastern Europe, Plakat, 2002. 11
Osthaus-Museums in Hagen und Dejan Sretenović, Chief Curator am Museum of Contempo-rary Art in Belgrad zu verdanken. Ein herzlicher Dank gilt auch allen Leihgebern und Leihge-berinnen, die durch das Zurverfügungstellen der Exponate diese Ausstellung überhaupt erst ermöglicht haben. Besonders sei auch allen Autorinnen und Autoren gedankt, die uns alle ohne Ausnahme die Rechte zum Wiederabdruck ihres bzw. ihrer Texte eingeräumt haben und so zur Entstehung eines Katalogbuches beigetragen haben, das international die erste, das Gesamtwerk der Gruppe umfassende Publikation zu Irwin darstellt. Und nicht zuletzt sei den Künstlern der Gruppe Irwin für eine intensive und anregende Zusammenarbeit gedankt.
Erschienen in:
Inke Arns (Hg./ed.)
Irwin: Retroprincip 1983-2003
September 2003
Deutsch: ISBN 3-936919-51-8
English: ISBN 3-936919-56-9
ca. 250 Seiten/pages
ca. 110 Farbabbildungen/color reproductions
30,5 x 24,5 cm
ca. 25 €
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https://archive.org/details/Laibach-1987OpusDei
mehr Story (via Zappy)
https://www.ventil-verlag.de/titel/1450/laibach-und-nsk
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ah – wird gerade hereingereicht, off-topic, aktuell, interessiert uns:
Diedrich Diederichsen in der SZ über Wolfgang Ullrich: „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“
Dass die Kunst autonom sei, sich also selbst Gesetze gibt, bedeutet, dass diese übertreten werden und umstritten sind und, seit es sie gibt, infrage gestellt und reformiert werden.
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weiter mit Laibach
https://archive.org/details/2013ThePervertsGuideToIdeology/1993+-+A+Film+From+Slovenia.avi
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Im Anatomiesaal
Foto Zappy
11.6.22
But if we stopped thinking about painting as something that goes from inside to outside (spirit, vomit) couldn’t art just start and even stay out here where it already is? Not output, not translation or transposition, not getting anything over on or across to anyone. Instead, painting already here, with us, in the midst of its own situation. Starting with hatred of canvas. And the weird dynamism of certain materials: liquid, adhesive, repellent, stubborn, funny. Without any idea, all of this is already here, already suggesting possible moves. Of course there are ideas too and many things to say, but not to start or end with these.
A painting can become a diagram of its own making. Some works seem to verge on writing while for sure doing something other than writing. Others look unsure about what they’re doing, but as if aiming for this uncertainty. No longer wanting to touch or see canvas, Eichwald goes with softer, suppler and more pliable supports (paper, Pleather), testing and combining the viscous and watery, sluggish and flowing, thick and thin possibilities of other specific materials (shellac, ink, acrylic, lacquer, wood stain, stage blood). She uses a brush and sometimes a roller, and involves other nearby objects such as a terrace railing and flowerpots.
Eichwald sets up and activates situations that sometimes start off badly, then finds good ways of going through them. Or maybe these are ways to forget about painting. Not a translation or communication of anything: more like setting up painting as its own vehicle. To get from here to here. A mapping-out with itself, to get out again. The resoluteness of and commitment to being out here with us and to plasticity, to keeping at it. Some paintings find the tougher, harder way toward lightness. Something needs to happen: painting invents another way of moving within its own dreadful limits. And this might not have happened at all. Each time it really feels like the very last time for painting. Not again?!
John Kelsey
Letzte Arbeiten is Eichwald’s fifth show with Reena Spaulings and our first on Santa Monica Blvd.
And a little bio:
Born and raised in a village near Cologne. Currently lives in Berlin, teaches in Vienna. Recent exhibitions in Walker Art Center, Minneapolis, Lenbachhaus Munich and Kunsthalle Basel.
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Images
14.4. – 29.4.2022, Vitrine am Karlsplatz
14.4. – 2.5.2022, Vitrine am Schottentor
Blick aus meinem Wohnzimmer eines nachmittags im April.
Abstrakt Ausflug #2
Karl-Marx-Hof, 1190 Wien, 27. März 2022
Der Karl-Marx-Hof: Über 1,2 Kilometer lang, mit geschlossener Bauweise, Toren und Türmen, steht er wie eine Festung im bürgerlich-konservativen Wiener Bezirk Döbling
„Wien hatte 1918 den Zusammenbruch einer jahrhundertealten Ordnung, die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und den Massenexodus einer halben Million Menschen erlebt, die über Nacht zu Ausländern geworden waren. Doch mitten im wirtschaftlichen Niedergang und im identitären Vakuum, das die vertriebenen Habsburger hinterliessen, war auch Platz für die Verwirklichung einer Utopie: 1919 wurde Wien zur weltweit ersten Millionenstadt, in der Sozialdemokraten an die Macht kamen. Sie bauten die Stadt zur proletarischen Metropole um: Dank einer gezielten Umverteilungspolitik schufen sie innerhalb weniger Jahre Wohnraum für über 200 000 Menschen. Heute ist die Stadt Wien, die bis in die neunziger Jahre Gemeindebau um Gemeindebau errichtete, die grösste Hausverwaltung Europas.“ (NZZ, Die rote Festung steht noch, 2. Juni 2014)
Treffpunkt um 12:45 Uhr damit die offene Führung erwischt wird, jeden Sonntag organisiert vom Museum WASCHSALON NR. 2 (waschsalon.at/startseite).
Wir werden zuerst auf den Platz des 12. Februar (Bürgerkrieg 1934) geleitet, dann durch einen der luftigen Innenhöfe der Wohnanlage. Viele Informationen, viele Namen – eingerahmt ins gemauerte Wohnensemble, schönstes Wetter, der Schatten wird gesucht, Jacken aus- und angezogen. Zufällig zusammengewürfelte Gruppe, manche etwas gezwungen, anderer mit aufgeklebten Dauergrinsen, einer gibt zu oft zu verstehen, dass er sehr gut selber besser bescheid weiß. Zur Information über den Karl-Marx-Hof und das „Rote Wien“ sei dieser Artikel vom engagierten Wiener Soziologen Raphael Kiczka von 2014 empfohlen: das-rote-wien.
Anschließend ein kurzer Schlenker über die Hohe Warte, am Stadion vorbei, zum Setagaya Park. Schlendern durch Döbling, Kaffee und Kuchen, weiter in den 9. Bezirk, in die Porzellangasse zum Abendbrot. Zum Ende waren wir rund 10 Stunden unterwegs gewesen.
Bilder vom Sonntag:
Paralipomena: Warum Ausflug?
„So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch einer Straße, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte.“
Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Abstrakt Ausflug #1
Marienthal-Gramatneusiedl, 19. März 2022
16-17 Uhr beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park
“1931 waren in der Gemeinde Marienthal durch die Schließung der ortsansässigen Textilindustrie dreiviertel von nahezu fünfhundert ortsansässigen Familien arbeitslos. Auf einen Hinweis des SPÖ-Vorsitzenden Otto Bauer und unter der Leitung des Wiener Sozialpsychologen Paul Felix Lazarsfeld machte sich das Team von fünfzehn jungen, hochmotivierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Marienthal auf. Es wollte drei Monate lang das Elend vor Ort en detail erkunden.(…) Per teilnehmender und verdeckter Beobachtung wurden nicht nur statistische Daten über Haushaltsbudgets oder einzelne Mahlzeiten erfasst, sondern auch Zeitverwendungsbögen verteilt, Gaststättenprotokolle erstellt oder Gehgeschwindigkeiten gestoppt. (…) Dreißig Kilogramm Untersuchungsmaterial türmten sich vor Marie Jahoda auf, als sie sich die Zusammenfassung vornahm: Familienprotokolle, Budgetanalysen, Aufzeichnungen aus Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten, Lehrerinnen und Lehrern und vieles mehr. Herausragend dabei der narrative Stil, mit dem Jahoda als lebensnah forschende Sozialpsychologin die umfangreichen Daten aufbereitete.” (Beitrag im Radio, DLF)
Herausgekommen ist 1933 ein tolles Buch, bald verdrängt und vergessen, ab den 1960ern wiederentdeckt, seitdem zugänglich als günstiges taschenbuch:
Marie Jahoda, Paul F. Lazarfeld, Hans Zeisel. Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. (Lektüre sei empfohlen!)
Ausflug ging mit der Bahn ins nur 15 Minuten entfernte Gramatneusiedl, im Süd-Osten von Wien. Vom Bahnhof 20 Minuten die Hauptstraße hinunter stehen wir vor dem Museum Marienthal, verortet im ehemaligen Gebäude des Conumvereins aus den späten 20er Jahren. (Eines der schönsten kleinen Museen der Welt: http://agso.uni-graz.at/museum_marienthal/index.htm).
weitere Info, kurzes video: https://www.youtube.com/watch?v=QOYyy7zTDCo
labournet.tv ( https://de.labournet.tv/ ) hat einen clip zum Film “Einstweilen wird es mittag” von Karin Brandauer veröffentlicht: https://de.labournet.tv/video/5737/einstweilen-wird-es-mittag
Zurück wählten wir weise einen anderen weg wie den bereits gegangenen und gelangten auf felder und wiesen, überquerten bäche und kanäle. Die abendsonne kündigte sich an, zum sonnenuntergang war es zu früh. (Siehe auch hierzu Bilder im Anschluß)
Verwiesen sei auch noch auf arbeiten der künstlerin Linda Bilda, die seit 2015 in Marienthal/Gramatneusiedl über das gemeindegebiet verteilt wurden, beziehung aufnehmend und suchend zu historischen gegebenheiten, aktuell in material und anliegen dass weiterhin etwas nicht stimmt mit den begrifflichkeiten von arbeit und arbeitslosigkeit: https://www.publicart.at/de/projekte/alle/?pnr=835&weiter=1
(wegen Linda Bildas kunst in marienthal hab ich mir das büchlein der Arbeitslosen von Marienthal damals zum ersten mal angeschafft. gelesen, halb vergessen, verlegt, jetzt wieder erinnert mit ankunft in wien, nochmal erworben)
Paralipomena: Warum Ausflug?
“Der Ausflug dient dem Fortleben, der Wandlung und Erneuerung des Lebendigen. Die stets wieder sich stellende Aufgabe wahrer Ausflüge ist der verbindliche Ausdruck der Dialektik von Ganzem und Teilen, wobei die Erkenntnis der Teile in die des Ganzen übergeht und umgekehrt das Bewusstsein vom Ganzen dem Ansatz der Teile sein Gewicht zuteilt. Der Ausflug ist kein Statisches, sondern ein Prozess”
Theodor W. Adorno in “Der Ausflug und die Ausflüge” ( … oder auch in “Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion”)
19 Min. · Hier ein paar Gedanken zu dem TAZ Zitat, auf das sich die Menschen im Internet gerade lustvoll stürzen. Die TAZ hat mich wie andere AutorInnen angefragt über meine blödesten Nebenjobs zu erzählen, die mir den Künstlerberuf finanziert hätten. Schon bei der Anfrage war ich leicht genervt. Ich hab keinen Job gehabt, um mir den Künstlerberuf zu finanzieren, sondern weil ich Geld zum Leben brauchte. Ich hab halt gearbeitet. Das ist ganz normal. Zwischen den Zeilen lese ich so eine Anfrage: DIE WAHRHEIT HINTER DER KUNST: SCHRIFTSTELLERINNEN FÜR DIE KUNST ZU NEBENJOBS GEZWUNGEN. Das ist mir völlig fremd. Was ist so schlimm daran einen Nebenjob zu haben? Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich im Callcenter wie eine ungerecht behandelte Künstlerin zu fühlen. Ich hab mich für so ein Leben entschieden. Mir stünden theoretisch alle Universitäten in Europa zur Verfügung, ich hatte aber keinen Bock. Theoretisch könnte ich auf hunderte Ausbildungen mit sicherem Einkommen zurückgreifen, ich wollte aber nicht normal arbeiten gehen. Wie andere kunstschaffende Leute habe ich immenses kulturelles Kapital, ich bin nicht kognitiv eingeschränkt. Also: wenn ich zwischen Juridicum und Bildender entscheiden kann, dann bin ich doch verdammt privilegiert? Gerade an diesem Narrativ merkt man, wie elitär die Kunstszene is, wenn ein NEBENJOB als übelstes Szenario ausgestellt wird. Unter meinem Zitat vergleicht man den Künstlerberuf mit Pflegekräften, mit Minenarbeitern, mit Erntehelfer aus Osteuropa. Sollen die doch was anderes machen. Was? Niemand der familiär wirklich aus so einem Background kommt würde diese Vergleiche wagen. Aber diese Realität kennen die meisten ja nicht, weil die Szene der Kulturschaffenden überhaupt nicht durchlässig is für Menschen aus dem Prekariat, der Anteil an Leuten ohne gehobenen Background ist noch viel geringer als in anderen akademischen Feldern. Die Kunstschulen sind voller Richkids. Und wenn man genauer hinschaut auf die prekären Lebensbedingungen der KünstlerInnen wird man überdurchschnittlich viele Erben finden, die dann doch bei genaueren Nachfragen zugeben müssen, dass die 100m² Altbauwohnung ihnen gehört. Aber niemand ist gerne ein Punk mit Treuhandfonds. Ich hätte immer einen Drang nach kreativem Ausdruck, ich würde nach 40 Stunden Regale schlichten im Supermarkt trotzdem immer auch was kreatives machen. Ich würde aber nach 40 Stunden Text schreiben nicht zum Vergnügen Regale einschlichten. KünstlerIn ist kein normaler Beruf, das merkt man schon daran, wenn sie über Arbeit reden: „Macht blabla noch Ausstellungen?“ „Nein, der hat jetzt einen normalen Beruf.“ Das merkt man schon daran wie die anderen Leute drüber reden: „Aber die Künstler KÖNNEN ja gar nicht anders“, liest man in vielen Kommentaren. „Die ersticken in normalen Jobs.“ Das klingt für mich wie eine Aussage wie „Ohne Terasse werde ich depressiv“. Andere überlebens auch.Nun zur Abschwächung: Ich habe bewusst mein Zitat ändern lassen von „In den meisten Fällen“ zu „in vielen“, damit es weniger radikal klingt. Die Taz hat es aber vergessen. Denn natürlich gibt es Verteilungsungerechtigkeit innerhalb der Kulturbetriebe und Männer bekommen immer noch mehr Geld als Frauen. Natürlich soll man sich nicht ausbeuten lassen und die SVA macht einem das Leben auch nicht gerade leicht. Frauen mit Kindern sind wie in jedem anderen Gesellschaftsbereich auch hier am Arsch. Und natürlich sind Kulurförderungen geil und wichtig, ich habe nie behauptet, die gehören abgeschafft. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass aus meinem kurzen Jobbeitrag gleich eine eigene Grafik mit Foto und süffisantem Blick erstellt wird, um das Narrativ: „Die Alte ist jetzt völlig abgehoben“ zu bedienen. Ich hätte das Zitat der FAZ gegenüber wahrscheinlich nicht gemacht. Außerdem muss man unterscheiden zwischen Musik, Kleinkunst, Theater, Literatur. Die Szenen, usw.. sind nochmal anders zusammengesetzt. Aber hier gings um SchrifstellerInnen.Aber anyway denkt vielleicht trotzdem nochmal nach ob ihr wirklich dasselbe Prekariat wie ErntehelferInnen, PaketzustellerInnen oder MinenarbeiterInnen seid oder ob das mehr eine gefühlte Realität is.
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bezieht sich auf diesen Artikel:
https://taz.de/Schriftstellerinnen-und-ihre-Nebenjobs/!5839635/